1 KONSTRUKTIVISMUS

„So ungewohnt es tönen mag: Eine angemessene Behandlung praktischer Aspekte des Wissens verlangt einen hoch abstrakten, philosophische-theoretischen Einstieg.“

(Silvia Staub-Bernasconi 1994: 96)

Die Verwendung der Kategorie Geschlecht markierte über einen langen Zeitraum hinweg feministisches Erkenntnisinteresse und ist derzeit in ihrer Eindeutigkeit fragwürdig geworden: „Das Geschlecht ist ins Gerede gekommen. Es wird konstruiert, dekonstruiert, rekonstruiert, je nach Lust und Laune des feministischen Diskurses. Die Meinungen gehen weit auseinander: Obwohl die Anhängerinnen der einzelnen Richtungen heftig und ausdauernd miteinander streiten, stimmen sie sämtlich darin überein, daß das Geschlecht keine natürlich-ontologische Kategorie ist, sondern eine Konstruktion. Als konstruiert gelten dabei nicht nur die soziokulturellen, politischen und ökonomischen Attribute des Geschlechts (gender), sondern auch das, was bislang als biologisches Substrat, als Körpergeschlecht (sex) angesehen wurde.“

(Frevert 1995: 13)

„Frau“, „Mann“, „Weiblichkeit“, „Männlichkeit“ bzw. „Geschlechterdifferenz“ erweisen sich  nun zunehmend als theoretische Leerstellen - konstruktivistischen Ansätzen ist die Neigung nicht abzusprechen, „die für politisches Handeln erforderlichen universalisierenden Identitätskategorien [4] wie z.B. Frau (oder Mann) aufzulösen“. 

(Kahlert 1996: 10)

Ich möchte deshalb hier zuerst etwas auf die von den chilenischen Neurobiologen Maturana und Varela in den 70er Jahren entwickelte Theorie der Autopoiese eingehen. Aus Wahrnehmungsexperimenten und Untersuchungen der Funktionsweise des menschlichen Nervensystems versuchen sie abzuleiten, daß dieses Nervensystem als ein  operational geschlossenes Netzwerk, als autopoietisches System funktioniere.

Nach dieser Theorie verarbeitet das Nervensystem Außenreize selbstständig aufgrund seiner eigenen Logik und Struktur, weshalb Veränderungen in unserer Wahrnehmung durch Außenreize zwar [möglicherweise] ausgelöst, keinesfalls aber inhaltlich bestimmt werden. Daher können wir im Grunde über die Struktur unserer Außenwelt nichts aussagen. 

(vgl.:  Maturana & Varela 1987: 19)

Es mag nun als etwas weit hergeholt erscheinen, basale biologische Erkenntnistheorien als einleitenden Abschnitt einer Erörterung von Interaktionen (und der dabei entstehenden sozialen Konstruktionen) darzustellen. Ich bin jedoch der Meinung, daß Interaktionen bzw. Interaktionspartner zuerst als solche erkannt werden müssen, ehe eine Reflexion über sie möglich ist. Die Fähigkeit zur Wahrnehmung eines Interaktionspartners bzw. einer Interaktion ist bei Menschen aufgrund ihrer biologischen Konstitution gegeben und konkretisiert sich durch das neurologische System.
Fragen, die die Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen betreffen, lassen sich deshalb nur innerhalb eines interdisziplinären Rahmens bearbeiten, der allerdings den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Deshalb beschränke ich mich im folgenden auf den biologischen Ausschnitt und zeige im weiteren einige Folgerungen aus diesen Erkenntnissen am Beispiel des sozialen Konstruktionismus und feministischer Erkenntnistheorie.

Die Theorie der Autopoiese ist eine Theorie über die Prinzipien des Funktionierens lebender Organismen. Sie stellt sich die Organisation von Organismen - unabhängig ihrer Größe - als Systeme vor, die sich am Leben erhalten, indem sie sich gewissermaßen in einem Prozeß ständiger Selbstherstellung, ständiger Reproduktion ihrer selbst befinden.

Voraussetzung dafür sind kreisförmige, regelmäßig wiederkehrende Prozesse des Zusammenwirkens der Bestandteile des jeweiligen Systems, deren Resultat wiederum das Zusammenwirken dieser Bestandteile zur Folge hat. Um diese zyklische Organisationsform - die auch als ein Netzwerk zur (Re-) Produktion ihrer eigenen Bestandteile beschrieben werden kann - aufrechterhalten zu können, benötigen lebende Systeme ausschließlich ´Informationen` über die jeweilige Beschaffenheit ihrer Bestandteile, über deren jeweilige Aktivitäten und über die jeweilige Art und Weise des Zusammenwirkens dieser Bestandteile und Aktivitäten.

Dadurch entsteht eine operationelle Geschlossenheit des jeweiligen Systems, es operiert stets und ausschließlich selbstreferentiell, auch dann, wenn ein Beobachter das Verhalten des System als „einen Umgang mit Objekten in der Welt“ beschreibt. 

(vgl.: Rusch in Nüse u.a. 1991: 10)

Autopoietische Systeme können - im Rahmen der Bedingungen ihrer zyklischen Organisation - ihre jeweiligen konkreten Strukturen variieren und modifizieren, z.B. lernen, wachsen, Deformationen kompensieren, u.ä., es hängt jedoch allein von der strukturellen Beschaffenheit des jeweiligen Systems ab, welche strukturellen Deformationen es zuläßt.

Selbstreferentielle Systeme sind daher homöostatisch, d.h. sie operieren induktiv und konservativ, indem sie über alle Deformationen und strukturellen Modifikationen hinweg ihre Organisation und ihre Angepaßtheit an die im Medium herrschenden Bedingungen aufrechtzuerhalten versuchen. „In diesem Sinne kann es keinen einzigen Organismus geben, der zugleich existiert und nicht angepaßt ist. Deshalb kann auch die sog. positive Auslese (survival of the fittest) kein Prinzip der biologischen Evolution sein; es muß vielmehr ein Prinzip negativer Auslese (death of the unfit) angenommen werden“. 

(Rusch in Nüse u.a. 1991: 10)

Für Maturana & Varela ist in diesem Sinne die darwinistische Evolutionstheorie nicht haltbar: „Es gibt kein ´Überleben des Angepaßteren`, sondern nur ein ´Überleben des Angepaßten`“. Die notwendigen Bedingungen der Anpassung können auf viele verschiedene Weisen erfüllt werden, wobei es keine ´beste` Weise gibt. „Vergleiche hinsichtlich der Effektivität gehören zum Bereich der Beschreibungen, die der Beobachter gibt. Sie haben keinen unmittelbaren Bezug zu dem, was in den individuellen Geschichten der Erhaltung der Anpassung geschieht.“  

(vgl.: Maturana & Varela 1987: 125)

Im Verlauf der Evolution lebender Systeme entwickelten sich Nervensysteme, die den Bereich der Operationen eines lebenden Systems um den Kognitionsbereich erweitern. Sie tun das, indem sie dem System Interaktionen erlauben, durch die seine internen Zustände in relevanter Weise durch sogenannte reine Relationen - also nicht unmittelbar durch äußere, physikalische Ereignisse - sondern durch Aktivitätsunterschiede von Sinneszellen modifiziert werden.

(vgl.: Schmidt 1985: 22)

Das heißt für den Menschen, „daß der vertraute Umgang mit Dingen, Ereignissen und Vorgängen in der Erfahrungswelt nicht eigentlich ein Umgang mit unabhängig von der individuellen Kognition ´an sich` existierenden und so - wie in der Wahrnehmung erscheinend - beschaffenen Entitäten ist, sondern ein ´Umgang` mit jeweils bestimmten Aktivitätszuständen, Aktivitätsunterschieden und Aktivitätsveränderungen der Nervenzellen in unseren Sinnesorganen und höheren Zentren des Nervensystems.
Die Welt unseres Erlebens mit all den Dingen, Ereignissen usw. ist auf diese Weise in den Abermillionen Aktivitätsmustern der Nervenzellen und Nervenzellverbände von den Sinneszellen bis hin zum Gehirn verkörpert".  

(Rusch in Nüse 1991: 11)

Die Vernetzungseigenschaften des Nervensystems und der Umstand, daß die Aktivitäten von Nervenzellen stets wiederum Aktivitäten anderer Nervenzellen zur Folge haben, „erzeugen innerhalb des Nervensystems ein System interner Repräsentationen neuronaler Aktivitäten durch neuronale Aktivitäten“.
Mit Nervensystemen ausgestattete lebende Systeme erzeugen damit durch Selbstbeobachtung Selbstbewußtsein: „Sie schaffen damit das scheinbare Paradox, ihren kognitiven Bereich innerhalb ihres kognitiven Bereichs zu enthalten“.
Lebende Systeme sind somit als selbstreferentielle Systeme informationsdicht und strukturdeterminiert, sie haben keinen informationellen Input und Output; sie sind mit anderen Worten energetisch offen, aber informell geschlossen, das heißt, das System selbst erzeugt die Information, die es verarbeitet, im Prozeß der eigenen Kognition.  

(Maturana in Schmidt 1985: 24)


Und so arbeitet das psychische System nicht mit den „´Abbildungen` realer Außenweltereignisse, sondern mit Relationierungen neuronaler Relationen“. Rusch nennt diesen Vorgang operationale Rekursion: „Daß bestimmte Aktivitäten von Nervenzellen die Aktivitäten von anderen Nervenzellen zur Folge haben, die wiederum Aktivitäten anderer Nervenzellen zur Folge haben usf.“.
Es sind also nicht Umweltereignisse an sich, die bestimmte Vorstellungen oder ein bestimmtes Bewußtsein produzieren. Umweltereignisse stoßen vielmehr neuronale Relationen an, ohne determinieren zu können, was mit diesen Anstößen im neuronalen System passiert: „das System interagiert mit sich selbst dadurch, daß es seine eigenen Beschreibungen in einem - bei immer weiteren Rekursionen - unendlichen Prozeß beschreibt. Dies ist auch die Voraussetzung dafür, daß ein System ´Bewußtsein` und ´Selbstbewußtsein` entwickeln kann. 

(Rusch 1986: 46)

Foerster hat dazu eine Rechnung aufgemacht: „Da wir nur über rund 100 Millionen Sinneszellen verfügen, unser Nervensystem aber an die 10.000 Milliarden Synapsen enthält, sind wir gegenüber Änderungen in unserer inneren Umwelt 100.000mal empfänglicher als gegenüber Änderungen in unserer äußeren Umwelt“. Oder anders gesagt: die internen Relationen sind 100.000mal realer, bedeutsamer und wirksamer als die externen Empfindungen. 

(Foerster 1985: 51)

Menschen können als strukturdeterminierte, autopoietische Systeme verstanden werden, weil das Nervensystem des Menschen Gedanken und Vorstellungen prozessiert und ein Bewußtsein erzeugt, dessen Konstitution ausschließlich aus der Organisationsweise und Struktur des neuronalen Systems folgt. „Es besteht also kein deterministischer Zusammenhang zwischen den ´Vorgängen` im Medium und dem Verhalten des Systems; das Medium selektiert lediglich im System angelegte und vom System autonom synthetisierte Reaktionsmöglichkeiten, spezifiziert und determiniert sie aber nicht.“ 

(Rusch in Nüse u.a. 1991: 12)

Interaktionen mit Objekten der ´Außenwelt` sind dennoch möglich. Durch das Inkarnieren operationaler Rekursionen und „der damit einhergehenden Entwicklung von ´Selbstbewußtsein` kann dann innerhalb des Kognitionsbereiches nach ´Innen` und ´Außen` differenziert werden“. [5]

Indem kognitive Systeme, z.B. Menschen, entsprechende Objekte in ihren jeweiligen Kognitionsbereichen spezifizieren, können sie mit diesen interagieren. „Je nach dem Grade ihrer strukturellen und funktionalen Parallelitäten und abhängig von der Intensität und Dauer ihrer Interaktionen kann es zur Ausbildung sprachlicher Bereiche und zur Konzeptualisierung mindestens einer objektiven [die trotzdem immer eine intersubjektive bleiben wird] Realität kommen“.

(Rusch in Nüse u.a. 1991: 13)

Schmidt sieht in diesen „strukturellen und funktionalen Parallelitäten“ eine „strukturelle Koppelung“, die strukturdeterminierte Systeme mit ihrem Medium als auch mit anderen, interagierenden Systemen verbindet und er interpretiert Maturana folgendermaßen:

„Durch strukturelle Koppelung eines Organismus an sein Medium kommt es zu ontogenetischer Anpassung; aus einer strukturellen Koppelung zweier Organismen resultiert ein konsensueller Bereich, in dem strukturell bestimmte Zustandsveränderungen der gekoppelten Organismen sequentiell aufeinander abgestimmt werden“.

(Schmidt 1985: 24)

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1.1 AUTONOMIE

Das „operational geschlossene“ Nervensystem agiert in derselben operationalen (bzw. ontologischen) Ebene wie das biochemische System, dessen Bestandteil es ja schließlich ist. Wenn das einzige Ziel eines Organismus die Fortsetzung der zirkulärn Produktion seiner Komponenten und damit die Erhaltung seiner autopoietischen Organisation ist, kann er nur durch ein auf die Umwelt bezogenes Verhalten überleben. [6]

„Wenn jedes verwirklichte System notwendigerweise an den Bereich angepaßt ist, in dem es verwirklicht wird, und wenn Anpassung die Bedingung der möglichen Verwirklichung des Systems ist, findet Evolution nur als ein Prozeß fortwährender Anpassung der Einheiten statt, die das evolvierende Organisationsmuster verkörpern“.

(Maturana & Varela 1987: 208)

Durch die Umwelt also wird der Rahmen der konkreten Möglichkeiten, diese Organisation zu verwirklichen, festgelegt - „die Umwelt selektiert die konkrete Struktur des autopoietischen Systems ohne das sie determinierend eingreift“. Dadurch koppelt sich die Umwelt strukturell an den Organismus und damit an dessen Nervensystem. Dieses wiederum „erfährt als operational abgeschlossenes System jede Einwirkung der Umwelt nur an und in sich selbst“.

(vgl.: Roth 1987: 54)

Jeder Mensch konstruiert sich demnach durch Selbstbeschreibung und Selbstexplikation seine eigene Welt - seine Wirklichkeit - in der er lebt und deren Teil er ist. Roth unterscheidet diese ´kognitive Wirklichkeit`(en) - die für uns die einzig existierende Wirklichkeit ist (!) - von der materiellen, kognitiv unzugänglichen Realität.
Der Bereich einer Wirklichkeit setzt natürlich denjenigen der materiellen Realität voraus, indem das kognitive System des Gehirns einen realen autopoietischen Organismus voraussetzt. [7]
„Wir haben es hier also [...] mit einem ontologischen Sprung zu tun“, denn „der entscheidende Aspekt ist doch, daß die Bereiche der Autopoiese, der Kognition und der Kommunikation als ontologisch unterschiedliche Bereiche angesehen werden“ können, wobei „Autopoiese die Voraussetzung für das Entstehen von Kognition und Kognition wiederum die Voraussetzung für Kommunikation schafft“.   

(Roth 1987: 72)

Es gibt demnach auch keinen unmittelbaren Kontakt zwischen verschiedenen Bewußtseinssystemen. Niemand kann die Gedanken und Vorstellungen eines anderen Menschen „wissen“, er kann sich nur seine eigenen Vorstellungen darüber bilden.
Gedanken, die ein Mensch hat, können deshalb nur von anderen Gedanken dieses Menschen wahrgenommen -- also beobachtet -- werden. Es gibt keine Möglichkeit, gezielt Gedanken von außen in den kognitiven Bereich eines System einzubringen, oder sie außerhalb eines Menschen zu beobachten. Auf dieser elementaren Ebene des Prozessierens von Gedanken gibt es für ein psychisches System weder Input noch Output, sondern nur zirkuläre Geschlossenheit.

Entsteht nun zwischen zwei Lebewesen eine strukturelle Kopplung, so bildet sich ein konsensueller Bereich, der die Grundlage „sprachlicher (wie auch nichtsprachlicher) Kommunikation ist“. Nur durch den Aufbau eines konsensuellen Bereichs ist es zwei oder mehreren menschlichen Systemen möglich, aufgrund gemeinsamer Erfahrung immer mehr und mehr „in Resonanz“ miteinander zu treten und sich somit durch Interaktion gegenseitig zu beeinflußen. 

(vgl.: Roth 1987: 65)

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1.2 WIRKLICHKEIT ALS KONSENSUELLES PHÄNOMEN

Grundlagen meiner Überlegungen sind Systemtheorien, die sich an dem Modell des sozialen Konstruktionismus, des symbolischen Interaktionismus sowie an Theorien einer feministischen Vernuftkritik orientieren. Ich setze damit voraus, daß das entscheidende System, um das es mir bei dieser Arbeit geht, nicht aus Personen, sondern aus Informationen und Kommunikation besteht.

(Schlippe/Schweitzer 1996: 30)

Menschliche Handlungen finden in einer Wirklichkeit statt, „die geschaffen wird durch soziale Konstruktion und Dialog“, also dadurch, daß Individuen Bedeutung und Verstehen im Gespräch intersubjektiv konstruieren. „Diese sozial konstruierten erzählerischen Wirklichkeiten geben der eigenen Erfahrung Bedeutung und Organisation“. 

(Ander-son & Goolishian 1992: 177)

In ihrem individuellen sozialen und lokalen Kontext entwickeln Menschen durch das Gespräch mit anderen - einschließlich sich selbst - ständig wechselnde, erzählerische Identitäten, in denen und durch die sie leben. Für Ken Gergen (1990: 196) ist damit das „Selbst“ kein „in der Haut eingeschlossenes Individium“, kein individuelles Konstrukt sondern vielmehr ein Ausdruck von Beziehung und Bezogenheit. Es geht dabei aber nicht darum, eine biologische Konstitution des Menschen abzustreiten. „Die Dialektik von ´Körpersein` und ´Körperhaben` ist damit nicht ausgesetzt, sondern gerade konstitutiv für die Aneignung als Identitätsfaktor“.

Und in einem Vorgriff auf die Diskussion zur Geschlechterdifferenz läßt sich jetzt schon sagen: Frauen und Männer sind  Kultur und Natur zugleich, denn „erst in der dialektischen Verschränkung von ´Natur` und ´Kultur` [werden] Männer und Frauen ´hergestellt` oder geschaffen“. Es gibt daher auch keine begründete Annahme dafür, daß Frauen der „Natur“ näher und deswegen entgegengsetzt seien. „Der Mythos von einer der Frau immanenten Naturnähe gehört seit Jahrhunderten zum patriarchalen Kanon“. 

(Gildemeister 1992: 226)

Es sind sprachliche Konzepte, „Landkarten“, die uns eine Orientierung in der Welt ermöglichen und es uns prinzipiell gestatten, Weltkomplexität auf verschiedene Weise zu reduzieren. Aber es ist ein folgenschwerer Kategorialfehler, wenn man die konstruierten Konzepte mit der Wirklichkeit verwechselt. „Wir neigen dazu, zu vergessen, daß es sich bei unseren Begriffen um Möglichkeiten des Begreifens handelt und nicht um die Dinge selbst“.

(Schlippe/Schweitzer 1996: 87)

Wenn die unterschiedlichen Perspektiven, eine Sache zu sehen, zu unterschiedlichen Konsequenzen, Urteilen und Entscheidungen führen, dann verliert auch die Sache selbst zunehmend an Bedeutung: „Statt dessen verlagert sich das Interesse auf die Art und Weise, wie soziale Gruppen die Sache sehen, benennen und kategorisieren,“ denn die gemeinsame Sichtweise davon, was als „Wirklichkeiten in einem System erlebt wird, ist sehr weitgehend bestimmend für Glück oder Unglück, Zufriedenheit oder Unzufriedenheit“. 

(Gergen 1990: 197)

Wirklichkeit ist somit nicht das alleinige Ergebnis eines individuellen Erkenntnisprozesses sondern ein konsensuelles Phänomen. Kein Mensch lebt alleine in der Welt, sondern immer in einem sozialen Zusammenhang. „Was wir als ´Wirklichkeit` bezeichnen, entsteht im Dialog, im Gespräch“ und ist somit auch eine Qualität des gesellschaftlichen Umfeldes.
Menschen konstruieren gemeinsame Wirklichkeiten als Konsens darüber, wie die Dinge zu sehen sind. Deshalb sind wir auch „in einem hohen Ausmaß persönlich verantwortlich für das, was wir als wirklich oder wahr ansehen.“ Und da uns Kriterien wie Wahrheitsnähe nicht mehr zur Verfügung stehen, bietet Ludewig „Nutzen, Schönheit und Respekt“ als mögliche Verhaltensrahmen an. 

(Ludewig in Schlippe u. Schweitzer 1996: 86)

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