2 GESCHLECHT ALS KATEGORIE

Ich möchte im folgenden versuchen, Erklärungen als Teil von vorgängigen Strukturierungen zu identifizieren um die Möglichkeit einer anderen Analyseperspektive zu schaffen. Fragen nach biologische Erklärungen geschlechtstypischen Verhaltens sind nach dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft nicht zu beantworten. Weder Gene, noch Hormone, noch die Beschaffenheit des Gehirns entfalten ihre Wirkung unabhängig von Umwelteinflüssen. Somit ist „jede Theorie über das menschliche Verhalten, die den gesamten Komplex an Einflüssen, die sich auf das Verhalten auswirken, ebenso ignoriert wie das tiefgreifende Wechselspiel zwischen Leib und Seele, (...) wissenschaftlich hoffnungslos“. 

(Fausto-Sterling in Bruck 1992: 54)

„Das biologische Geschlecht (i.S. von sex) hat für sich betrachtet keinen Erklärungswert, denn aus der menschlichen Zweigeschlechtlichkeit läßt sich zunächst nicht mehr entnehmen, als daß es sie gibt.“ (Bruck, S. 55)  Aber daß es sie gibt ist das Ergebnis einer sozialen Konstruktion: „Leiblichkeit und Geschlechtlichkeit sind das Ergebnis sozialer, kultureller Prozesse auf der Grundlage symbolvermittelter sozialer Interaktionen und kultureller und institutioneller Sedimentierungen.“ [8] 

(Gildemeister 1992: 226)

In diesem Prozeß der „binären sozialen Codierung der Welt“ wird eben dieser Umstand häufig nicht bedacht und führt dazu, „daß man für ´Natur` hält, was ´Gesellschaft` ist. Die konstruierte Zweigeschlechtlichkeit wird zu einer „natürlichen Selbstverständlichkeit“ und somit konstitutiv für den Erwerb von Geschlechtlichkeit, die eine Frau oder einen Mann von einem Dritten (Zweideutigen, Perversen, Anormalen) unterscheidet. Dieser „binären Klassifikation“, diesem rigorosen „End-weder-Oder“ kann sich niemand entziehen ohne sich massiven sozio-kulturellen Sanktionen auszusetzen. 

(Gildemeister 1992: 230)

Es geht somit zuerst nicht darum, inwieweit „das Geschlecht“ zu unterschiedlichen Sozialisationsprozessen führt, sondern es ist die Geschlechtlichkeit selbst, die angeeignet werden muß. Für die Geschlechtsidentität der Mitglieder einer solchen Gesellschaft ist es nicht ausreichend, sich selbst als weiblich oder männlich zu definieren, sondern es sind komplexe Aneignungsprozesse von „in der gesellschaftlich spezifischen Fassung der Geschlechterrelation sedimentierten sozialen Differenzierungen“, denen sich jedes Mitglied unterziehen muß.
Diese Differenzierungen betreffen vor allem den nicht immer explizierten und meist nur intuitiv zugänglichen Bereich sozialen Handelns: den „der generativen Regeln der Herstellung sozialer Situationen“.
Und diese „generative Regeln“ sind in unserer momentanen Gesellschaft primär mit „Deutungen und Wertungen verbunden, in denen die Geschlechterdifferenz auf ein weibliches Defizit hin verfasst ist und in denen die hierarchische Fassung der Geschlechterrelation männliche Superiorität geltend macht.“
Es geht somit nicht einfach nur um Regeln, mit deren Hilfe Frauen von Männern unterschieden werden, „sondern darum, wie diese Regeln in ihrer Relation zur sozialen Welt von zwei Geschlechtern eingesetzt und benutzt werden (müssen).“ 

(Gildemeister 1992: 231)

Geschlechtlichkeit wird in alltäglichen Interaktionen auf eine ganz bestimmte Weise konstituiert und symbolisiert. Regine Gildemeister verweist auf Untersuchungen, die zum Ergebnis hatten, daß der Penis als das einzig ausschlaggebende Merkmal von ´Geschlechtlichkeit` gesehen wird:  „Gender attribution is genital attribution and genital attribution is essentially penis attribution. ... Penis equals male but vagina does not equal female.“ [9]

(Kessler/McKenna in Gildemeister 1992: 232)

Mit anderen Worten, jemand wird nur dann als Frau gesehen, wenn diese Person nicht als Mann gesehen werden kann, sie ist nur dann „weiblich“, wenn „männliche“ Zeichen abwesend sind. „Es gibt keine positiven Merkmale, deren Fehlen zur Einstufung als Nicht-Frau, also als Mann führen würden“. 

(Gildemeister 1992: 231)

Die Konstruktion von Geschlechtlichkeit in unserer Gesellschaft verläuft so, „daß männlichen Charakteristiken eine größere ´Offensichtlichkeit` zugesprochen wird“. Die Erweiterung bzw. Generalisierung auf „männliche Charakteristiken“ erklärt sich aus dem Umstand, daß das alltagsweltlich „ausschlaggebende Faktum“ so gut wie nie in alltäglichen Abläufen sichtbar ist.
Somit dienen andere Merkmale als Hinweise auf die Existenz entsprechender Genitalien. „Es wird angenommen, daß sie existieren - in diesem Sinne werden sie zu ´kulturellen Genitalien`“. Dadurch wird aber zugleich aus einer geschlechtlichen Differenz eine menschliche Unvollständigkeit, aus einer menschlichen Verschiedenheit eine gesellschaftliche und rechtliche Ungleichheit.
Das Ergebnis ist ein gesellschaftlich konstruiertes, durch permanente Interaktionen sanktioniertes Gefängnis der Geschlechtlichkeit: „Die ´Realität der Geschlechtszugehörigkeit` wird geprüft über die Genitalien, die zugeschrieben wurden, und zur gleichen Zeit hat das zugeschriebene Genital nur durch die sozial geteilte Konstruktion des Geschlechtszuschreibungsprozesses Bedeutung und Realität“.
Die so konstruierte soziale Strukturkategorie „Geschlecht“ gehört zu den bevorzugten Merkmal menschlicher Selbstkategorisierung, aber - „die erworbenen Kategorien werden selbst zu steuernden Schemata von hoher Zentralität“ und es werden vor allem „jene sozialen Einflüsse verhaltenswirksam, die sich [mit] dem jeweiligen Geschlechtsrollenkonzept assimilieren lassen“.

(Gildemeister 1992: 233)

[zurück zum Inhalt]

.

2.1 KONKRET

Es gibt also, ohne daß wir sie genau formulieren können, ziemlich eingerastete Vorstellungen und Regeln darüber, was „männlich“ und was „weiblich“ ist. Diese Geschlechtsrollenschablonen sind von klein auf eingeübt und werden von der einen an die andere Generation - sozusagen als „kulturelles Erbe“ - weitergegeben, sie wirken ständig, oft ohne das wir uns darüber im klaren sind. Wir haben Gesten an uns, Verhaltensweisen, die sich automatisch an diesem „männlich“, „weiblich“ orientieren, ohne daß wir sie im einzelnen registrieren.

In diesem Zusammenhang verweist Gisela Kramer auf Untersuchungen, die zeigen, „daß Kinder im Alter zwischen drei und fünf Jahren nicht nur über ihre eigene Geschlechtsidentität Bescheid wissen, sondern umfangreiche Kataloge über angemessenes Verhalten im Kopf haben; sie wissen wie eine Frau sich verhält und wie sie ist, und sie wissen, wie ein Mann sich verhält und wie er ist.“ Rollenspezifisches Denken ist damit auch quasi ein „psychologisches Stützkorsett“, um ein seelisches Gleichgewicht zu finden und die eigene Identität aufrechtzuerhalten.

(Kramer 1993: 39)

Wenn ein Mann und eine Frau das gleiche tun ist es in der Bewertung keineswegs das gleiche, denn die patriarchale Hierarchie betrifft ja nicht nur „die Strukturierung der Gesellschaft, sie stellt ebenso eine Hierarchie der Gefühle und des Denkens her“.
Beide Geschlechter werden von klein auf dazu angehalten, „mit gewissen Gefühlen ´in den Untergrund` zu gehen“: Jungen sollen nicht weinen, Mädchen nicht wild und kratzbürstig sein. Die jeweils ausschließlich zugelassenen Gefühle werden in entgegengesetzte „feminine“ und „maskuline“ getrennt, „wobei die „maskulinen“ Qualitäten in unserer Gesellschaft mehr bewundert und geachtet werden als die „femininen“.
Durch die Abwertung der Gefühlswelt von Frauen und die Aufwertung der „männlichen“ Emotions-Qualitäten wird in unserer „männlich“ geprägten Gesellschaft Jungen und Männern „von vorneherein mehr ´Selbst` zugestanden als Frauen und Mädchen“ je besitzen könnten. „Frauen müssen daher einen längeren Weg zurücklegen, um zu ihrem ureigenen Selbst vorzudringen, wenn ihnen das überhaupt je gelingt“.  

(Kramer 1993: 53)

[zurück zum Inhalt]

.

2.2 KULTURELLES ERBE: STEREOTYPEN

Der Begriff Stereotyp wird definiert als eine weit verbreitete, zeitlich überdauernde, stark schematisierte Einstellung einer sozialen Gruppe zu einer anderen bzw. zu sich selbst. Stereotype dienen der Orientierung im sozialen Geschehen und  gehen in Form von internalisierten kulturgeprägten Wertvorstellungen und Normen der selektiven menschlichen Wahrnehmung voraus.
Geschlechterstereotype beinhalten Vorstellungen über männliche und weibliche Eigenschaften, Verhaltensweisen und Tätigkeiten sowie über Organisation und Struktur sozialer Beziehungen, welche auch vom Geschlecht der Interaktionspartner beeinflußt werden und sind zunächst für soziales Handeln konstitutiv, denn sie enthalten Merkmale, die das Individuum zur Identifizierung des Selbst und des Anderen braucht, um handlungsfähig zu sein.
Der stark vereinfachte und generalisierende Aspekt der Stereotype schränkt die individuelle Freiheit und die Differenziertheit einer Gesellschaft ein, denn er begrenzt sowohl den Erfahrungshorizont als auch den Handlungsspielraum des Einzelnen und ganzer sozialer Gruppen.

(vgl.: Liesenfeld 1993: 23)

Stereotype über Männlichkeit und Weiblichkeit erscheinen zwar als entgegengesetzte Pole, sind aber keine echten Gegensätze,  denn die Konzepte ´Männlichkeit` und ´Weiblichkeit` sind in ihrer Komplementarität nicht gleichwertig.
Männlichkeit gilt als das ursprüngliche und positv bewertete Konzept. Dagegen steht Weiblichkeit im Sinne eines ´weniger als männlich` oder auch ´anders als männlich` und damit als weniger positiv gewertetes Konzept, womit die Hierarchisierung der Geschlechter deutlich wird.

(vgl.: Liesenfeld 1993: 25)

Das Kind übernimmt im Laufe seiner kognitiven Entwicklung stereotype Vorstellungen in sein Selbstkonzept. [10] Im Hinblick auf die oben beschriebene Geringschätzung des ´Weiblichen` gegenüber dem ´Männlichen, ist es wahrscheinlich, daß das Selbstkonzept von Mädchen bzw. Frauen eher negativ ausfällt, was sich im Hinblick auf die weibliche Lebensplanung auswirkt. Ein Selbstkonzept, das fehlende Leistungsfähigkeit bzw. Inkompetenz beinhaltet, muß negative Konsequenzen zeigen.

Die Organisation einer Berufsbiographie unter den klassischen Normen von Weiblichkeit wird in der mittleren Kindheit bereits vorentschieden. Es kann zu einer frühen Etablierung psychischer Barrieren kommen, die in dem vergleichsweise geringen Vertrauen des Mädchens in seine eigenen Fähigkeiten zum Ausdruck kommt, unabhängig von ihren schulischen Leistungen bzw. ihrer Intelligenz. Indem Erfolge als Zufall interpretiert und Mißerfolge der eigenen Inkompetenz zugeordnet werden, bestätigen sich Mädchen die internalisierte Geringschätzung ihrer Leistungsfähigkeit immer wieder selbst.  

(vgl.: Liesenfeld 1993:29)

Demnach bestimmen Stereotype an sich selbst gestellte Erwartungen und Interpretationen, die dem eigenen Leistungsverhalten zugeordnet werden. Während Jungen in der Adoleszenz eine kontinuierliche Ausrichtung auf den Beruf zeigen und präzise Zukunfts und Berufsvorstellungen äußern, versuchen Mädchen neben berufsbezogenen Plänen auch Erwartungen bezüglich einer späteren Rolle als Mutter und Hausfrau zu berücksichtigen.
Der Arbeitsmarkt ist in Frauen und Männerberufe geteilt, wobei die typischen Frauenberufe das niedrigere Prestige, schlechtere Bezahlung und mangelnde Aufstiegschancen gegenüber Männerberufen aufweisen. Typische Dienstleistungsberufe, wie z.B. der Beruf der Erzieherinnen, mit niederen Gehaltsklassen, gelten häufig als Berufe, für die Frauen besonders geeignet sind.

(vgl.: Liesenfeld 1993: 30)

Es scheint demnach, daß Frauen sich freiwillig Einschränkungen auferlegen um das Gebot der Weiblichkeit zu erfüllen. Haben sich Frauen dann in gesellschaftlich niedrig bewertete Positionen begeben, ist eine Statuserhöhung nur noch über eine ´gute Heirat` möglich.
Frauen, die entsprechende Qualifikationen erwerben, gewinnen zwar an Status, sie riskieren jedoch mit steigender Kompetenz in den Augen der Umwelt an Weiblichkeit zu verlieren. Daraus ergibt sich zwangsläufig, daß ein Beruf umso höher angesehen ist, je geringer der Frauenanteil ist und umgekehrt. Das heißt, daß der Frauenanteil in einer Berufsgruppe auf das Prestige des Berufes abfärbt. Demzufolge hat Frausein offenbar ein niedrigeres Prestige als Mannsein.

(vgl.: Liesenfeld 1993: 32)

Als Voraussetzung für den Abbau der Ungleichheit der Geschlechter muß die subtile Wirkung von Stereotypen und deren realitätsferner und diskriminierender Inhalt ins öffentliche Bewußtsein gerückt werden.
Es ist ein großer ´Autonomievorschuß` und eine ausgeglichene innere Balance nötig um das Spannungsverhältnis zwischen sich selbst und den Vergesellschaftungszwängen auf lange Sicht aushalten zu könen. Im Beharren auf Differenzen zwischen den Individuen und dem gesellschaftlichen Konstrukt weiblicher Identität werden wir immer wieder auf die Macht männlicher Maßstäbe auch bei Frauen gestoßen. 

(Becker-Schmidt/Knapp 1987: 150)

[ zurück zum Inhalt ] [ weiter zu Kapitel 3 ]