I.Teil

"Wäre die bestehende Welt nicht die beste,

so hätte Gott die beste Welt entweder nicht gekannt oder

nicht schaffen können oder nicht schaffen wollen.

Alle drei Annahmen sind mit dem Wesen Gottes unvereinbar;

folglich ist die bestehende Welt die beste von allen möglichen."

Leibniz

 

Ich möchte zuerst etwas auf die von den chilenischen Neurobiologen Maturana und Valera in den 70er Jahren entwickelte Theorie der Autopoiese eingehen. Aus Wahrnehmungsexperimenten und Untersuchungen der Funktionsweise des menschlichen Nervensystems versuchen sie abzuleiten, daß dieses Nervensystem als ein >> operational geschlossenes << Netzwerk, als >> autopoietisches System << funktioniere.

Nach dieser Theorie würde das Nervensystem Außenreize selbstständig aufgrund seiner eigenen Logik und Struktur verarbeiten, weshalb Veränderungen in unserer Wahrnehmung durch Außenreize zwar (möglicherweise) ausgelöst, keinesfalls aber inhaltlich bestimmt würden und wir über die Struktur unserer Außenwelt daher nichts aussagen könnten.

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1. Autopoiese

 

Die Theorie der Autopoiese ist eine Theorie über die Prinzipien des Funktionierens lebender Organismen. Sie stellt sich die Organisation von Organismen - unabhängig ihrer Größe - als Systeme vor, die sich dadurch am Leben erhalten indem sie sich gewissermaßen in einem Prozeß ständiger Selbstherstellung, ständiger Reproduktion ihrer selbst befinden.

Voraussetzung dafür sind kreisförmige, regelmäßig wiederkehrende Prozesse des Zusammenwirkens der Bestandteile des jeweiligen Systems, deren Resultat wiederum das Zusammenwirken dieser Bestandteile zur Folge hat. Um diese zyklische Organisationsform - die auch als ein Netzwerk zur Produktion ihrer eigenen Bestandteile beschrieben werden kann - aufrechterhalten zu können, benötigen lebende Systeme ausschließlich ´Informationen` über die jeweilige Beschaffenheit ihrer Bestandteile, über deren jeweiligen Aktivitäten und über die jeweilige Art und Weise des Zusammenwirkens dieser Bestandteile und Aktivitäten.

Dadurch entsteht eine operationelle Geschlossenheit des jeweiligen Systems, es operiert stets und ausschließlich selbstreferentiell, auch dann, wenn ein Beobachter das Verhalten des System als "einen Umgang mit Objekten in der Welt" beschreibt.

Autopoietische Systeme können - im Rahmen der Bedingungen ihrer zyklischen Organisation - ihre jeweiligen konkreten Strukturen variieren und modifizieren, z.B. lernen, wachsen, Deformationen kompensieren, u.ä., es hängt jedoch allein von der strukturellen Beschaffenheit des jeweiligen Systems ab, welche strukturellen Deformationen es zuläßt.

Selbstreferentielle Systeme sind daher homöostatisch, d.h. sie operieren induktiv und konservativ indem sie über alle Deformationen und strukturellen Modifikationen hinweg ihre Organisation und ihre Angepaßtheit an die im Medium herrschenden Bedingungen aufrechtzuerhalten versuchen. "In diesem Sinne kann es keinen einzigen Organismus geben, der zugleich existiert und nicht angepaßt ist. Deshalb kann auch die sog. positive Auslese (survival of the fittest) kein Prinzip der biologischen Evolution sein; es muß vielmehr ein Prinzip negativer Auslese (death of the unfit) angenommen werden."

Für Maturana & Varela ist in diesem Sinne die darwinistische Evolutionstheorie nicht haltbar: "Es gibt kein ´Überleben des Angepaßteren`, sondern nur ein ´Überleben des Angepaßten`". Die notwendigen Bedingungen der Anpassung können auf viele verschiedene Weisen erfüllt werden, wobei es keine ´beste` Weise gibt. "Vergleiche hinsichtlich der Effektivität gehören zum Bereich der Beschreibungen, die der Beobachter gibt. Sie haben keinen unmittelbaren Bezug zu dem, was in den individuellen Geschichten der Erhaltung der Anpassung geschieht."

Im Verlauf der Evolution autopoietischer Systeme entwickelten sich Nervensysteme, die den Bereich der Operationen eines lebenden Systems um den Kognitionsbereich erweitern. Sie tun das, indem sie dem System Interaktionen erlauben, durch die seine internen Zustände in relevanter Weise durch sogenannte reine Relationen - also nicht unmittelbar durch äußere, physikalische Ereignisse - sondern durch Aktivitätsunterschiede von Sinneszellen modifiziert werden.

Das heißt für den Menschen, "daß der vertraute Umgang mit Dingen, Ereignissen und Vorgängen in der Erfahrungswelt nicht eigentlich ein Umgang mit unabhängig von der individuellen Kognition ´an sich` existierenden und so - wie in der Wahrnehmung erscheinend - beschaffenen Entitäten ist, sondern ein ´Umgang` mit jeweils bestimmten Aktivitätszuständen, Aktivitätsunterschiede und Aktivitätsveränderungen der Nervenzellen in unseren Sinnesorganen und höheren Zentren des Nervensystems.

Die Welt unseres Erlebens mit all den Dingen, Ereignissen usw. ist auf diese Weise in den Abermillionen Aktivitätsmuster der Nervenzellen und Nervenzellverbände von den Sinneszellen bis hin zum Gehirn verkörpert."

Die Vernetzungseigenschaften des Nervensystems und der Umstand, daß die Aktivitäten von Nervenzellen stets wiederum Aktivitäten anderer Nervenzellen zufolge haben, "erzeugen innerhalb des Nervensystems ein System interner Repräsentationen neuronaler Aktivitäten durch neuronale Aktivitäten". Mit Nervensystemen ausgestattete lebende Systeme erzeugen damit durch Selbstbeobachtung Selbstbewußtsein: "Sie schaffen damit das scheinbare Paradox, ihren kognitiven Bereich innerhalb ihres kognitiven Bereichs zu enthalten."

Lebende Systeme sind somit als selbstreferentielle Systeme informationsdicht und strukturdeterminiert, sie haben keinen informationellen Input und Output; sie sind mit anderen Worten energetisch offen, aber informell geschlossen, das heißt, das System selbst erzeugt die Information, die es verarbeitet, im Prozeß der eigenen Kognition.

Und so arbeitet das psychische System nicht mit den "´Abbildungen` realer Außenweltereignisse, sondern mit Relationierungen neuronaler Relationen". Rusch nennt diesen Vorgang operationale Rekursion: "Das bestimmte Aktivitäten von Nervenzellen die Aktivitäten von anderen Nervenzellen zufolge haben, die wiederum Aktivitäten anderer Nervenzellen zufolge haben usf... ."

Es sind also nicht Umweltereignisse an sich, die bestimmte Vorstellungen oder ein bestimmtes Bewußtsein produzieren. Umweltereignisse stoßen vielmehr neuronale Relationen an, ohne determinieren zu können, was mit diesen Anstößen im neuronalen System passiert, - "das System interagiert mit sich selbst dadurch, daß es seine eigenen Beschreibungen in einem - bei immer weiteren Rekursionen - unendlichen Prozeß beschreibt. Dies ist auch die Voraussetzung dafür, daß ein System ´Bewußtsein` und ´Selbstbewußtsein` entwickeln kann."

Förster hat dazu eine Rechnung aufgemacht: "Da wir nur über rund 100 Millionen Sinneszellen verfügen, unser Nervensystem aber an die 10.000 Milliarden Synapsen enthält, sind wir gegenüber Änderungen in unserer inneren Umwelt 100.000mal empfänglicher als gegenüber Änderungen in unserer äußeren Umwelt". Oder anders gesagt: die internen Relationen sind 100.000mal realer, bedeutsamer und wirksamer als die externen Empfindungen.

Menschen können als strukturdeterminierte, autopoietische Systeme verstanden werden, weil das Nervensystem des Menschen Gedanken und Vorstellungen prozessiert und ein Bewußtsein erzeugt, dessen Konstitution ausschließlich aus der Organisationsweise und Struktur des neuronalen Systems folgt. "Es besteht also kein deterministischer Zusammenhang zwischen den `Vorgängen´ im Medium und dem Verhalten des Systems; das Medium selektiert lediglich im System angelegte und vom System autonom synthetisierte Reaktionsmöglichkeiten, spezifiziert und determiniert sie aber nicht."

Interaktionen mit Objekten der ´Außenwelt` sind dennoch möglich. Durch das Inkarnieren operationaler Rekursionen und "der damit einhergehenden Entwicklung von ´Selbstbewußtsein` kann dann innerhalb des Kognitionsbereiches nach ´Innen` und ´Außen` differenziert werden."

Indem kognitive Systeme, z.B. Menschen, entsprechende Objekte in ihren jeweiligen Kognitionsbereichen spezifizieren, können sie mit diesen interagieren. "Je nach dem Grade ihrer strukturellen und funktionalen Parallelitäten und abhängig von der Intensität und Dauer ihrer Interaktionen kann es zur Ausbildung sprachlicher Bereiche und zur Konzeptualisierung mindestens einer objektiven (die trotzdem immer eine intersubjektive bleiben wird) Realität kommen."

Schmidt sieht in diesen "strukturellen und funktionalen Parallelitäten" eine "strukturelle Koppelung", die strukturdeterminierte Systeme mit ihrem Medium als auch mit anderen, interagierenden Systemen verbindet und er interpretiert Maturana folgendermaßen: "Durch strukturelle Koppelung eines Organismus an sein Medium kommt es zu ontogenetischer Anpassung; aus einer strukturellen Koppelung zweier Organismen resultiert ein konsensueller Bereich, in dem strukturell bestimmte Zustandsveränderungen der gekoppelten Organismen sequentiell aufeinander abgestimmt werden."

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2. Ein interpretativer und hermeneutischer Ansatz, Therapie zu verstehen

 

Ausgehend von der Entwicklung in der systemischen Therapie der letzten Jahre, in der sich das familientherapeutische Denken hin zu dem, was man "Kybernetik der zweiten Ordnung" und schließlich "Konstruktivismus" nennt, verschob, versuchten Praktiker wie zum Beispiel Harlene Anderson & Harold Goolishian oder Tom Andersen einen konzeptionellen Rahmen zu entwickeln, der den "früheren Empirizismus von Theorien der Therapie" umging. Beeinflußt wurden sie dabei von hermeneutischen und interpretatorischen Theorien, sowie von Konzepten des sozialen Konstruktivismus.

Für sie ist die therapeutische Sitzung ein Prozeß, der einen festgefahrenen Prozeß wieder "zum Laufen" bringen soll. Sie sagten sich, "daß das Ziel wichtig, aber nicht das wichtigste ist. Das wichtigste ist der Weg zum Ziel. Man steckt oft deswegen fest, weil es schwierig ist, (oft überhaupt) einen Weg zu finden, auf dem man erreicht, wonach man sich sehnt. Die ´Feststeckenden` sagen: ´Wir wissen nicht, was wir tun sollen.` Könnte es für die, die uns konsultieren, hilfreich sein zu sehen wie wir arbeiten, wenn wir versuchen, neue Beiträge zu einem neuen Weg oder mehreren neuen Wegen zu finden?"

Menschliche Handlungen finden in einer Wirklichkeit statt, "die geschaffen wird durch soziale Konstruktion und Dialog", also dadurch, daß Individuen Bedeutung und Verstehen im Gespräch intersubjektiv konstruieren". [1] Diese sozial konstruierten erzählerischen Wirklichkeiten geben der eigenen Erfahrung Bedeutung und Organisation."

Anregungen zu diesem Modell lieferte dabei auch Batesons Überlegungen über "Unterschiede, die einen Unterschied machen". Er macht darauf aufmerksam, daß wir nicht die Dinge an sich sehen, sondern als etwas, das sich von seinem Hintergrund für uns durch einen Unterschied darstellt. Denkt man dabei alleine schon an die Unterscheidungen, die unsere Sinnesorgane durchführen können ist es verständlich, daß niemand auf alle achten kann. [2] "Da es stets weitere Möglichkeiten der Unterscheidung gibt, ist das Bild, das man erhält, ein (momentanes) Ergebnis von Unterscheidungen, die dieser Beschreibende trifft. Oder anders gesagt: es gibt immer mehr zu sehen, als man sieht", und es kann für einen Menschen faszinierend sein, "zu erfahren, was eine andere Person in der Situation sah, hörte, roch, schmeckte oder fühlte, das er oder sie nicht bemerkte."

Zwei Personen in derselben Situation haben höchstwahrscheinlich verschiedene Unterscheidungskriterien - "oder verschiedene ´Karten` des selben ´Territoriums`, wie Bateson es nennt". Es könnte die gleiche Karte sein, die für von Glasersfeld die "Karte der Pfade von Handlungen und Gedanken (ist), die sich zu diesem Zeitpunkt auf dem Kurs unserer Erfahrung als viabel [3] erwiesen (haben)."

Die Praktiker gingen von der Vorstellung aus, daß jede Vorabinformation, die sie über ein System erhalten, unausweichlich in den Kontext einfließen wird, der den Hintergrund der eben erhaltenen Information bildet. Sie fragten sich, "wie nahe wir dadurch denen waren, denen wir begegneten - oder könnte es sein, daß unsere Hypothesen uns von ihnen entfernten" und beschlossen, "das System selbst als das Wichtigste (zu) erachten" - und dies führte zu dem Versuch, alle Vorüberlegungen und Hypothesen bezüglich ihres Konsultantensystem möglichst weitgehend zu unterlassen.

Das Ziel ihres therapeutischen Ansatzes ist somit also nicht das Entdecken von Wissen, sondern die >> Erzeugung eines dialogischen Konversationsprozesses <<. Innerhalb ihres therapeutischen Gesprächs findet zwar auch eine "Ko-Kreation von Wirklichkeit" statt - im Sinne von: Therapeut und Klient basteln gemeinsam an einer Geschichte, die dem Klienten weniger Probleme und mehr Handlungsmöglichkeiten erlaubt, aber nicht so, daß es letzlich die Aufgabe des Therapeuten ist, aufgrund seiner Erfahrung unnützliche Geschichten zu dekonstruieren, Vorschläge für bessere oder nützlichere Geschichten zu finden und bei deren Herausgabe zu helfen. Vielmehr betonen Anderson & Goolishian die Haltung des Therapeuten als "Nicht-Experten", der nichts "besser weiß" als die Klienten, sondern auf deren Expertise vertraut.

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2.a. Ihre narrative Position stützt sich auf folgende Prämissen:

 

"1. Menschliche Systeme sind sprach- und gleichzeitig bedeutungserzeugende Systeme. Kommunikation und Diskurs definieren die soziale Organisation. Ein soziokulturelles System ist eher das Produkt sozialer Kommunikation, als die Kommunikation das Produkt struktureller Organisation ist. Alle menschlichen Systeme sind Sprachsysteme und werden besser von denjenigen beschrieben, die selbst daran teilnehmen, als von Außenstehenden "objektiven Beobachtern". Das therapeutische System ist ein solches Sprachsystem.

2. Bedeutung und Verstehen werden sozial und intersubjektiv konstruiert. Wir gelangen nicht eher zu Bedeutung und Verstehen, bis wir in kommunikatives Handeln eintreten, z.B. uns in einen bedeutungserzeugenden Diskurs oder Dialog innerhalb des Systems begeben, für das die Kommunikation relevant ist. Ein therapeutisches System ist ein System, für das die Kommunikation eine Relevanz hat, die spezifisch ist für ihren dialogischen Austausch.

3. Jedes System ist ein solches, welches dialogisch rund um das Problem zusammenfließt. Dieses System entwickelt Sprache und Bedeutung, die selbstspezifisch ist, eine spezifische Organisation hat und spezifisch für die Auf-Lösung rund um das "Problem" ist. In diesem Sinne ist das therapeutische System ein System, welches eher durch das Entfalten ko-kreierter Bedeutungen, "dem Problem" gekennzeichnet ist, als irgendeine willkürliche soziale Struktur wie etwa die Familie. Das therapeutische System ist ein problem-organisierendes, problem-auf-lösendes System.

4. Therapie ist ein sprachliches Ereignis, welches stattfindet in dem, was wir therapeutische Konservation nennen. Das therapeutische Gespräch ist ein gegenseitiges Suchen und Explorieren durch Dialog, ein Zwei-Wege-Austausch, ein kreuz-und-quer von Ideen, in welchen sich neue Bedeutungen kontinuierlich entwickeln bis hin zur "Auf-Lösung" des Problems und letztlich zur Auflösung des therapeutischen Systems führen.

5. Die Rolle des Therapeuten ist die eines Gesprächskünstlers, eines Architekten des dialogischen Prozesses, dessen Expertentum im Schaffen eines Raumes und dem fördern dialogischer Konservation besteht. Der Therapeut ist ein teilnehmender Beobachter und teilnehmender Förderer therapeutischer Konservation.

6. Der Therapeut übt seine therapeutische Kunst durch den Gebrauch von konversationalen oder therapeutischen Fragen aus. Die therapeutische Frage ist das primäre Instrument, das die Entwicklung des konversationalen Raumes und des dialogischen Prozesses erleichtert. Um dies zu erreichen übt der Therapeut ein Expertentum aus, indem er eher Fragen aus der Position des Nichtwissens stellt als Fragen, die durch eine Methode informiert sind und damit spezifische Antworten erfordern.

7. Probleme, mit denen wir uns im therapeutischen Prozeß beschäftigen, sind Handlungen, die unsere menschlichen Erzählungen in einer solchen Weise zum Ausdruck bringen, daß sie unsere Möglichkeiten zu handeln oder unsere persönliche Freiheit mindern. Probleme sind betroffener oder alamierter Widerspruch gegen einen Zustand mit dem wir nicht kompetent umgehen können. In diesem Sinne existieren Probleme in Sprache, und Probleme sind einzigartig bezüglich des erzählerischen Kontextes aus dem sie ihre Bedeutung ableiten.

8. Veränderung in Therapie ist die dialogische Kreation neuer Erzählungen und deshalb die Eröffnung günstiger Möglichkeiten für neues, kompetentes Handeln. Die wandelnde Kraft der Erzählung beruht auf ihrer Fähigkeit, die Ereignisse unseres Lebens im Kontext einer neuen und andersartigen Bedeutung rückzubeziehen. Wir leben in und durch die erzählerische Identität, die wir im Gespräch miteinander entwickeln. Die Geschicklichkeit des Therapeuten besteht in seinem Expertentum an diesem Prozeß teilzunehmen. Unser "Selbst" ändert sich ständig."

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2.b. Therapeutische Konservation:

 

Anderson & Goolishian sprechen bei ihrem therapeutischen Prozeß von einer "therapeutischen Konversation", bei der innerhalb eines Dialoges ein wechselseitiges Suchen nach Verstehen des "Problems" stattfindet. Durch gemeinsames Untersuchen und Befragen der Geschichte des Klienten im Sinne eines "miteinander Redens" anstelle eines "zueinander Redens", ergeben sich gemeinsame Entwicklungen neuer Bedeutungen, neuer Wirklichkeiten und neuer Erzählungen seiner Geschichte.

In ihrem individuellen sozialen und lokalen Kontext entwickeln Menschen durch das Gespräch mit anderen - einschließlich sich selbst - ständig wechselnde, erzählerische Identitäten, in denen und durch diese sie leben. Und aus diesen, dialogisch geleiteten Erzählungen, leiten sie auch ihr Gefühl für sozial kompetentes Handeln ab. Somit können auch die ´Probleme`, die in Therapien verhandelt werden, gedacht werden "als aus sozialen Erzählungen und Selbstdefinitionen erwachsend, die kein kompetentes Handeln bezüglich einer definierten Aufgabe (Absicht) erlauben, welches in der Erzählung impliziert wird."

Die Aufgabe des Therapeuten, sein "Expertentum" besteht darin, den Prozeß des Dialogs durch die Entwicklung eines "konversationellen Freiraums" zu erleichtern, "die Betonung liegt nicht auf der Erzeugung von Veränderungen, sondern darauf, Raum für Gespräche zu öffnen".

Dazu ist es erforderlich, daß der Therapeut die Position des "Nicht-Wissens" einnimmt, eine Haltung also, "in welcher er eine reichhaltige, aufrichtige Neugier vermittelt". Dadurch, das er dem Klienten sein Bedürfnis vermittelt, mehr über das zu erfahren, worüber dieser spricht und gleichzeitig vermeidet, vorgefaßte Meinungen und Erwartungen über den Klienten, dessen Problem oder das, was geändert werden sollte, vorzutragen, erreicht der Therapeut eine Position des "Informiertwerdens". "Das ist nicht dasselbe wie Nachsicht mit der Wirklichkeit eines anderen zu üben oder sie zu verdinglichen", es ist vielmehr ein "konversationales Sich-Bewegen innerhalb der erzählerischen Wahrheit der Geschichte des Klienten."

Für Anderson & Goolishian ist diese Position des Informiertwerdens "entscheidend für die Annahme der hermeneutischen Theorie, daß das Schaffen von Bedeutung im Dialog immer ein intersubjektiver und kontinuierlicher Prozeß ist". Der Therapeut "kennt nicht" die Intention irgendeiner Handlung des Klienten, er ist auf dessen Erklärung, dessen Weltsicht und Bedeutungszuschreibung angewiesen.

Somit ist er in der Lage, "die Einzigartigkeit der erzählerischen Wahrheit jedes einzelnen Klienten kennenzulernen, den kohärenten Wahrheiten in ihrem erzählten Leben". Dadurch, daß er die Geschichte des Klienten ernst nimmt und sich an dessen Position orientiert, erlaubt er ihm, seine Sichtweise nicht länger anpreisen oder beschützen und den Therapeuten davon überzeugen zu müssen.

Diese, den Dialog entspannende und erleichternde Haltung ermöglicht es Therapeut und Klient, Teile eines "Bedeutungskreises bzw. hermeneutischen Zirkels" zu werden.

Die Autoren warnen davor, theoretische Konzepte zum Verstehen der innerhalb des "Bedeutungszirkels" gewonnenen Erkenntnisse anzuwenden. Sie halten die "traditionelle, paradigmatische Sprache der Psychologie und Familientherapie (...) und die Verwendung des dazugehörigen Vokabulars" für ungenügend, um lokal abgeleitete Bedeutungen zu erklären oder zu verstehen. Das stereotype Benutzen solcher Konzepte, die implizit ein illusorisches (!) Vorverständnis für die Erzählungen des Klienten wecken, würde oft gerade zum Verlust des Kontaktes führen.

Nur durch Aufmerksamkeit auf die Entwicklung der Erzählung und das Bleiben innerhalb der Sprache, der Erzählung, der Metapher, die spezifisch für das Problem sind, kann er mit dem Klienten in Beziehung bleiben.

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2.c. Was therapeutische Fragen nicht sind

 

Die Fragen der traditionellen Therapie implizieren oft die Richtung (zur korrekten Wirklichkeit) oder geben sich ihre eigenen Antworten indem sie einen Hinweis für den Klienten enthalten. Sie dienen dazu, jemanden aus seinem Glaubenssystem herauszureden oder es als ungültig darzustellen. Diese Fragen, die spezifische Antworten erfordern, entstammen einer Position des "Wissens", und der Therapeut engt damit die Beschreibung der Erfahrung des Klienten ein.

Werden Fragen jedoch vom Standpunkt des "Nicht-Wissens" gestellt, fördern sie das Entfalten " ´noch unausgesprochener` Möglichkeiten, der ´noch-nicht ausgesprochenen` Erzählungen". Durch die sich dadurch entwickelnden neuen Erzählungen wird der Prozeß der Entwicklung neuer persönlicher Wirklichkeiten und Handlungsmöglichkeiten beschleunigt. Der Klient erlebt durch sich selbst die Veränderung seiner individuellen und sozialen Organisation. "In der Therapie wird dieser Prozeß begonnen und aufrechterhalten durch den therapeutischen Dialog und das Gespräch. Es findet im konversationalen Raum statt."

Keine Frage allein kann jedoch verursachen, daß jemand Bedeutung verändert oder eine neue Idee entwickelt, "keine Frage allein kann dialogischen Raum öffnen. (...) Jede Frage ist eher ein Element eines gesamten Prozesses und damit Teil des hermeneutischen Zirkels des Verstehens." Es sind Fragen, deren Antwort das unmittelbare Nacherzählen (bzw. Weitererzählen) der Geschichte ist. Solche Fragen können nicht vorausgeplant oder vorausgewußt werden. "Was gerade gesagt oder erzählt wurde, ist die Antwort, auf welche der Therapeut eine Frage finden muß".

Die Bereitschaft, von dem Wissen auszugehen, daß es niemals eine gänzlich ´wahre` Geschichte noch ein einzigartig richtiges oder korrektes Verstehen gibt, erleichtert die Empfänglichkeit und Aufnahmebereitschaft, die notwendig ist, um die Kontinuität mit dem Erleben des Klienten aufrecht zu erhalten und enthält implizit die Annahme, daß es "kein therapeutengeleitetes, -vorgeplantes oder -verschriebenes Ergebnis bezüglich des Klienten gibt, welches Normalität und Pathologie betrifft."

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2.d. Therapeutische Kollaboration bzw. selbstbestimmte Handlungskompetenz

 

Indem die Geschichte des Klienten im miteinander Reden ständig weitererzählt und elaboriert wird, werden Fragen aus der Position des ´Nicht-Wissens` zu kollaborierenden Bemühungen, "neue Bedeutung auf der Basis der linguistischen und erklärenden Geschichte des Klienten zu generieren". Dadurch erhält der Klient die Möglichkeit, die eigene Geschichte zu erzählen und wieder zu erzählen, es ergeben sich aus den sich entwickelnden Erzählungen neue Bedeutungen, neues Verständnis für das eigene Leben und neue Handlungsmöglichkeiten.

"Ein therapeutisches Gespräch ist nicht mehr als eine sich langsam entwickelnde und detaillierte, konkrete individuelle Lebensgeschichte, die durch die Position des ´Nicht-Wissens` des Therapeuten und seine Neugier, etwas zu lernen, stimuliert wird."

Ein wesentliches Ergebnis der therapeutischen Konversation ist die Entwicklung selbstbestimmter Handlungskompetenz, die, so Anderson & Goolishian, bereits potentiell im Klienten und seinem Umfeld vorhanden ist. Nicht die Erwartung, irgendwann ganz verstanden zu haben, sondern die Absicht, den Prozeß der Veränderung durch das Lenken der Aufmerksamkeit auf Ansätze eben dieser Kompetenz zu entfalten, führt die Geschichte des Klienten in eine Richtung von mehr Freiheit, mehr Selbstbestimmung, mehr Selbstverantwortung. Damit wird auch die Individualität des jeweiligen Menschen in seinem einzigartigen Kontext respektiert.

 

 

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