II.TEIL

3. Die Autonomie lebender Systeme....

 

"Bei den Interaktionen zwischen dem Lebewesen und der Umgebung [...] determinieren die Perturbationen der Umgebung nicht, was dem Lebewesen geschieht; es ist vielmehr die Struktur des Lebewesens, die determiniert, zu welchem Wandel es infolge der Perturbation in ihm kommt. Eine solche Interaktion schreibt deshalb ihre Effekte nicht vor. Sie determiniert sie nicht und ist daher nicht ´instruierend`, [...]. Wir wollen damit darauf hinweisen, daß der Wandel, der aus den Interaktionen zwischen dem Lebewesen und seiner Umgebung resultiert, zwar von dem pertuierenden Agens hervorgerufen, aber von der Struktur des perturbierten Systems determiniert wird."

(Maturana & Varela 1987, 106)

Obwohl ein Lebewesen materiell und energetisch offen ist, bekommt es über sein strukturdeterminiertes, operational geschlossene Nervensystem keinen Input und keinen Output. Es kann zwar über die Rezeptoroberflächen seiner Sinnesorgane erregt werden, aber die Folgen dieser Erregung legt es selbst fest, denn es erfährt diese ja nur als "relative Veränderungen seiner neuronalen Zustände", folgere ich aus dieser Aussage Maturana & Varelas.

Das "operational geschlossene" Nervensystem agiert jedoch in derselben operationalen (bzw. ontologischen) Ebene wie das biochemische System, dessen Bestandteil es ja schließlich ist. Wenn das einzige Ziel eines Organismus die Fortsetzung der zirkuläre Produktion seiner Komponenten und damit die Erhaltung seiner autopoietischen Organisation ist, kann er aber trotzdem nur durch ein auf die Umwelt bezogenes Verhalten überleben.

"Wenn (jedoch) jedes verwirklichte System notwendigerweise an den Bereich angepaßt ist, in dem es verwirklicht wird, und wenn Anpassung die Bedingung der möglichen Verwirklichung des Systems ist, findet Evolution nur als ein Prozeß fortwährender Anpassung der Einheiten statt, die das evolvierende Organisationsmuster verkörpern."

Durch die Umwelt also wird der Rahmen der konkreten Möglichkeiten, diese Organisation zu verwirklichen, festgelegt - "die Umwelt selektiert die konkrete Struktur des autopoietischen Systems ohne das sie determinierend eingreift". Dadurch koppelt sich die Umwelt strukturell an den Organismus und damit an dessen Nervensystem. Dieses wiederum "erfährt als operational abgeschlossenes System jede Einwirkung der Umwelt nur an und in sich selbst."

Jeder Mensch konstruiert sich demnach durch Selbstbeschreibung und Selbstexplikation seine eigene Welt - seine Wirklichkeit - in der er lebt und deren Teil er ist. Roth unterscheidet diese ´kognitive Wirklichkeit`(en) - die für uns die einzig existierende Wirklichkeit ist (!) - von der materiellen, kognitiv unzugänglichen Realität. Der Bereich einer Wirklichkeit setzt natürlich denjenigen der materiellen Realität voraus, indem und weil das kognitive System des Gehirns einen realen autopoietischen Organismus voraussetzt. [4]

"Wir haben es hier also (...) mit einem ontologischen Sprung zu tun", denn "der entscheidende Aspekt ist doch, daß die Bereiche der Autopoiese, der Kognition und der Kommunikation als ontologisch unterschiedliche Bereiche angesehen werden" können, wobei "Autopoiese die Voraussetzung für das Entstehen von Kognition und Kognition wiederum die Voraussetzung für Kommunikation schafft."

Es gibt demnach auch keinen unmittelbaren Kontakt zwischen verschiedenen Bewußtseinssystemen. Niemand kann die Gedanken und Vorstellungen eines anderen Menschen "wissen", er kann sich nur seine eigenen Vorstellungen darüber bilden.

Gedanken, die ein Mensch hat, können deshalb und nur von anderen Gedanken dieses Menschen wahrgenommen -- also beobachtet -- werden. Es gibt keine Möglichkeit, gezielt Gedanken von außen in den kognitiven Bereich eines System einzubringen, oder sie außerhalb eines Menschen zu beobachten. Auf dieser elementaren Ebene des Prozessierens von Gedanken gibt es für ein psychisches System weder Input noch Output, sondern nur zirkuläre Geschlossenheit.

Entsteht nun zwischen zwei Lebewesen eine strukturelle Kopplung, so bildet sich ein konsensueller Bereich, der die Grundlage "sprachlicher (wie auch nichtsprachlicher) Kommunikation ist". Nur und durch den Aufbau eines konsensuellen Bereichs ist es zwei oder mehreren menschlichen Systemen möglich, aufgrund gemeinsamer Erfahrung immer mehr und mehr in "in Resonanz" miteinander zutreten und sich somit durch Interaktion gegenseitig zu beeinflußen.

Konzeptuiert man "empirisches Wissen" somit als intersubjektiv geteiltes operationales Wissen in unserem Kognitionsbereich, dann verschwindet auch die Irritation, daß diese empirische Theorie zu einer empirisch leeren neuen Theorie führen könnte.

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4. ..... & therapeutische Kausalitätsvorstellungen

 

 

Menschen können sich wechselseitig beobachten, und sie können miteinander kommunizieren. Dabei sind ihnen die unterschiedlichsten Grade der Einfühlung, der Übereinstimmung, des Verstehens möglich. Grundlegend ist aber, daß es sich immer nur um die Interaktion zwischen Systemen handelt, deren je selbstreferentielle autopoietischen Operationsweise das Schienennetz vorgibt, in das an bestimmten Punkten und in intern vorgegebener Weise fremdreferentielle Informationscontainer eingeschleust werden können.

 

4.a. Therapeutische Praxis

 

Grau & Hargens haben in diesem Sinne einen Interview-Stil entwickelt, mit dessen Hilfe sich systemisch-konstruktivistische Fragen innerhalb einer zuvor entwickelter Metapher formulieren lassen. Die Metapher wird von ihnen dabei als Angebot verstanden, "Wirklichkeit im Verlaufe einer Beratungssitzung als gemeinsame Tätigkeit von Beratern und Kunden zu erschaffen". ´Kunde` deshalb, weil für Grau & Hargens die nach Beratung suchenden Menschen als Kunden "kundig sind: kundig für ihre jeweilige Lebenswirklichkeit, für die Gestaltung ihres Lebens", sie selbst sind die Experten in und für ihre spezifischen Kontexte und nicht nur, weil sie eine "Dienstleistung bei/von uns in Anspruch nehmen". Dementsprechend begreifen sich Grau & Hargens als Experten für den anderen Bereich, als Experten "für konstruktiv(istisch)e Konversation."

Grundlage dieses Beratungskonzeptes ist die Anerkennung der unterschiedlichen Wirklichkeiten bei verschiedenen Personen. Es geht dabei nicht darum, "´richtiges` und ´falsches`, ´dysfunktionales` und ´funktionales`, ´problematisches` und ´unproblematisches` Verhalten voneinander abzugrenzen, sondern darum, über den Prozeß der Konstruktion von Wirklichkeit zu reflektieren". Nicht die ´wahre Geschichte` steht im Zentrum des Interviews, sondern das "(Re-) Konstruieren von Wirklichkeiten aus unterschiedlichen Perspektiven", für Grau & Hargens eine "´Herausforderung`, nach alternativen Beschreibungen wahr-genommener Wirklichkeiten zu suchen".

Die beiden Autoren arbeiten dabei grundsätzlich zu zweit, nicht nur, um eine Vielzahl unterschiedlicher Fragen stellen zu können, sondern auch, um ihre Ressourcen gemeinsam auszuschöpfen indem sie sich wechselseitig als Quelle, Anregung und Hilfe "benutzen". Sie bezeichnen diese Gespräche zwischen den Beratern innerhalb des Beratungsgesprächs als "Meta-Dialog", um damit deutlich zu machen, "daß wir jederzeit vor den Kunden, also öffentlich, die Dinge (z.B. Fragen, Zweifel, Assoziationen, Hintergedanken, Rückfragen, Ideen, Kehrseiten) einbeziehen, thematisieren (..) können, die uns in unserer Arbeit informieren". Dabei kann das Reflektierende Team gegebenenfalls eine zusätzliche Ebene der Reflexion und Re-Konstruktion bilden.

Der Begriff ´Meta` steht für Grau & Hargens als Beschreibung für ´anders`, ´andere Ebene`, "ohne daß diese Andersartigkeit Bewertungen im Sinne von ´besser/schlechter`,´richtig/falsch`,´höher/tiefer` usw. einbezieht".

Dem Kunden - als potentiellen Teilnehmer - an diesem Meta-Dialog stehen dabei natürlich die gleichen Reflexionsmöglichkeiten zu und aus ihrer praktischen Erfahrung berichten sie vom häufigen Gebrauch dieser Möglichkeit. "Diese direkten Interaktionsmöglichkeiten sind Teil des Respekts, den wir der Kompetenz und dem Können unserer Kunden zollen und in unserem Verhalten ausdrücken."

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4.b. Metaphern und konstruktiv(istisch)es Fragen

 

".Metapher .. : sprachlicher Ausdruck, bei dem ein Wort, eine Wortgruppe aus seinem eigentlichen Bedeutungszusammenhang in einen anderen Übertragen wird, ohne das ein direkter Vergleich zwischen Bezeichnendem u. Bezeichnetem vorliegt; bildhafte Übertragung (z.B. das Haupt der Familie)."

Für Grau & Hargens besitzen Metapher vor allem den Vorteil, ´Vergangenes` wieder aktualisieren zu können - "das Benennen und Aussprechen von Metaphern ´erschafft` gewissermaßen die Situation neu - und zwar in den Vorstellungswelten aller Beteiligten". Somit wird es möglich, Situationen "vor dem geistigen Auge" zu zeichnen und sich innerhalb des Beratungsgesprächs auf diese "visuelle Repräsentation" des Themas zu beziehen. Metapher werden damit als ein "Angebot" benutzt, "Wirklichkeit auf eine Art zu beschreiben, die sich erst im Prozeß eines Gesprächs/Interview entwickelt". Grau & Hargens betonen das Ausspielen der Vieldeutigkeit einer Metapher, um sich dann an der Reaktion der Kunden zu orientieren, "ob und in welchem Maße sie auf diese Weiter-Konstruktion eingehen".

Wichtig bei der Arbeit der Berater ist nicht die Erfindung der "passenden" Metapher durch die Berater, denn die Kunden verfügen eben durch ihre Kundigkeit ihrer Lebenswirklichkeit über ausreichend Bilder, Vergleiche, etc. , wichtig ist es, "eine hohe Sensibilität für die Sprachspiele der Kunden (zu) entwickeln, um die von diesen angebotenen Metaphern aufzugreifen und gemeinsam weiterzuentwickeln".

Metaphern können in sehr anschaulicherweise Weise konstruktiv(istisch) - zirkuläre Fragen in Form von Bildern transportieren, die dem Kunden dabei viel Raum für die eigene Gestaltung lassen. Bezieht sich die Metapher zum Beispiel auf "Eisenbahn" mit allem was dazugehört, wie "Weiche", "Gleise", "Stellwerke" etc., so ließe sich die Frage "Was können sie tun, um die Situation zu verschlimmern?" als Metapher-Frage vielleicht so formulieren: "Was könnte den Zug aus den Gleisen springen lassen?"

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4.c. Zirkuläres Fragen

 

Palmowski & Thöne haben einige Elemente und Funktionen zirkulärer Fragen zusammengetragen:

Zirkuläre Fragen ergeben sich aus dem Feedback des Vorhergehenden und konstruieren so einen Kreislauf von Schleifen oder Rekursivität innerhalb eines Gesprächs. Sie sind daher besonders geeignet zur Erzeugung von Informationen über Unterschiede und Veränderungen. Zirkuläre Fragen erleichtern das Aufstellen, Verfeinern und Verwerfen von Hypothesen über das Problemsystem und ermöglichen somit ein "Verflüssigen" statischer Sichtweisen, denn es ergeben sich "dauernd neue Informationen, die wieder zu neuen Fragen führen, die wieder zu neuen Informationen führen, die wieder... und so fort". Gleichzeitig fördern sie die Neugier des Beraters und halten seine Neutralität aufrecht.

Das vielleicht wichtigste Kriterium zirkulärer Fragen ist die Erschaffung neuer Informationen für den Angesprochenen. Palmowski & Thöne ziehen dazu das von Schulz von Thun entwickelte Kommunikationsmodell hinzu. Bei diesem Modell wird die Beziehungsebene in vier Aspekte aufgeteilt, Schulz von Thun spricht von den "vier Seiten einer Nachricht": 1. der Sachinhalt (oder: Worüber ich informiere), 2. die Selbstoffenbarung (oder: Was ich von mir selbst kundgebe), 3. die Beziehung (oder: Was ich von dir halte und wie wir zueinander stehen) und 4. den Appell (oder: wozu ich dich veranlassen möchte).

Durch die explizite Aufnahme des Beziehungsaspekts - und nicht nur des Sachaspekts - in eine Frage und dessen explizite Beantwortung werden Informationen auch für den geschaffen, der die Antwort gibt. Mit anderen Worten: "Eine zirkuläre Frage bezieht sich auf einen Sachaspekt in seiner Bedeutung für die Beziehung(s-struktur) von mindestens zwei Mitgliedern des Systems."

Palmowski & Thöne betonen dabei den Zusammenhang von Neutralität, Hypothetisieren und Zirkularität. Sie gehen davon aus, "daß die Neutralität den Kontext für die Konstruktion einer Vielfalt von Hypothesen erzeugt. Eine Vielfalt von Hypothesen erzeugt wiederum den Kontext, zirkuläre Muster zu erkennen (im Gegensatz zu linearen Ursache-Wirkungs-Beziehungen) und zirkuläre Fragen zu stellen".

Zirkularität basiert ihrer Meinung nach auf der Vorstellung, "daß Menschen in speziellen Mustern in Zeit miteinander verbunden sind". Menschen müssen ständig neue Informationen integrieren und geben gleichzeitig Informationen ab, "die Konsequenz dieser Vernetzung und gegenseitigen Beeinflußung von Systemen ist die, daß Veränderung stattfinden muß. Zeit (-verlauf) bewirkt zwangsläufig Veränderung!"

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4.d. Konsequenzen

 

Bislang wurde angenommen, das der "richtige" therapeutische Input den gewünschten Output erzeugt. Nach Maturana u.a. sind nun aber weder zirkuläre noch lineare Verursachungs-Vorstellungen akzeptabel. Kausalität ist immer nur ein geistiges Konstrukt eines Beobachters, die "kausale Betrachtung von Ereignissen ist unser epistemologischer Weg, Ereignisse zu ordnen, zu interpunktieren", aber nur das "Wesen" des Kunden spezifiziert und interpunktiert, ob die therapeutischen Bemühungen Veränderungen begünstigen oder nicht.

Therapeuten können demnach keinen Wandel ihrer Klienten ursächlich bewirken, sie können lediglich Einflüsse geltend machen und Erfahrungen anstoßen. Sprache bzw. sprachliche Interaktion dient dem Klienten bei der Orientierung in seinem kognitiven Bereich, ihre Funktion besteht nicht in der Übermittlung von Informationen, sondern einzig und allein "in der Erzeugung eines konsensuellen Verhaltensbereichs zwischen sprachlich interagierenden Systemen im Zug der Entwicklung eines kooperativen Interaktionsbereichs". Erst der Hörer ist es, der dem Gesagten eine bestimmte Bedeutung gibt!

Ein System ist abgestimmt auf die Deformationen, die es ohne Verlust seiner Identität verkraften kann und auf die deformierende Umwelt, in der es sich befindet. Lernen läuft nach Maturana in diesem Sinne als "atemporaler Prozeß der Transformation" ab.

Aufgrund von Interaktionen erlebt eine System also Zustandsveränderungen, die zu Strukturveränderungen in seinen Bestandteilen führen können, jedoch kann ein Organismus "nicht im vornherein determinieren, wann er sich im Fluß der Erfahrung verändert und wann nicht", denn das Nervensystem operiert immer nur in der Gegenwart.

Wrede unterscheidet dabei grundsätzlich zwischen zwei Interaktionsbereichen und somit zwischen zwei Quellen für Deformationen bzw. Transformation: "Die eine ist die Umwelt als eine Quelle von Ereignissen (..), die andere Quelle ist das System selbst" und folgert daraus: "Therapeutisches Handeln muß auf eine Veränderung des externen Interaktionsbereichs abzielen, in dem sich ja der Beobachter befindet. Der interne Bereich ist ausschließlich Sache des betroffenen Organismus". [5]

Da es prinzipiell keine folgenlosen Interaktionen gibt, führt jede Interaktion bzw. Perturbation zu irgendeiner Veränderung. Therapie ist hierbei ein "gezielter, hypothetischer Versuch", ein System mit "neuen begleitenden Einwirkungen" zu konfrontieren, um seine Bereitschaft und Fähigkeit zu innovativer Veränderung zu fördern.

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