III. Teil

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5. Bodenlose Objektivität

 

Die Theoretiker des Radikalen Konstruktivismus gehen also davon aus, daß es Menschen prinzipiell nicht möglich ist, eine "Wirklichkeit da draußen" direkt und unmittelbar zu erkennen. Das "Radikale" am konstruktivistischen Weltbild - nämlich die Aussage: "da wir über eine objektive Realität nicht sprechen können, müssen wir anerkennen, daß jegliche Wirklichkeit subjektabhängig ist" - bildet jedoch eine Paradoxie [6] , die die Folge der geschlossenen Organisation unseres Organismus ist. Dies macht die "Einzigartigkeit jedes Beobachters aus", schreibt dazu Maturana, "und jeden Beobachter einsam."

Die sich daraus ergebende Erkenntnis, nämlich das wir die Wirklichkeit nicht finden sondern erfinden ist nicht leicht zu akzeptieren. Und das - für viele Menschen - Schockierende daran ist, daß wir - nach der Auffassung des Radikalen Konstruktivismus - von der Wirklichkeit (wenn es die überhaupt gibt) immer nur wissen können was sie nicht ist, denn erst im Zusammenbrechen unserer Wirklichkeitskonstruktionen erfahren wir, daß die Welt so nicht ist.

"Wissen wird vom lebenden Organismus aufgebaut, um den an und für sich formlosen Fluß des Erlebens so weit wie möglich in wiederholbare Erlebnisse und relativ verläßliche Beziehungen zwischen diesen zu ordnen. Das heißt, daß die "wirkliche" Welt sich ausschließlich dort offenbart, wo unsere Konstruktionen scheitern. Da wir das Scheitern aber immer nur in eben jenen Begriffen beschreiben und erklären können, die wir zum Bau der scheiternden Strukturen verwendet haben, kann es uns niemals ein Bild der Welt vermitteln, die wir für das Scheitern verantwortlich machen könnten."

Eine Möglichkeit, Geschehnisse in der Welt zu unterscheiden könnte zum Beispiel die Einteilung der Welt in eine Wirklichkeit ´erster Ordnung` und in eine Wirklichkeit ´zweiter Ordnung` sein.

Die Wirklichkeit ´erster Ordnung` besteht dann aus Elementen, die aus Beobachtungen und Experimenten abgeleitet wurden. [7] Sie ist die Wirklichkeit aller "Tatsachen" die sich "objektiv" feststellen lassen, indem die Wiederholung derselben Untersuchungen dasselbe Resultat ergibt - unabhängig davon, von wem, wann und wo die Wiederholung durchgeführt wird. Und aus diesen "Tatsachen" lassen sich dann scheinbar endgültige Erklärungen der Welt und Richtlinien für die rechte Einstellung des Menschen zur Welt, zu den Mitmenschen und zur eigenen Existenz ziehen. "Denn allen Menschen guten Willens wäre die Wahrheit nun zugängig, und nur die Verrückten, Verstockten und sonstwie Heimtückischen würden sich der Vernunft verschließen. Für sie wären Irren- und Zuchthäuser zuständig." Wer die Wirklichkeit wirklich so sieht wie sie ist, der ist normal, und das sind natürlich vor allem die Mitglieder des therapeutisch-psychatrischen Personals dieser Gesellschaft.

Aber die direkte Wahrnehmung der Tatsachen dieser Welt über unsere Sinnesorgane ist jedoch, meiner Meinung nach, trotz allem und nach wie vor das Ergebnis einer "phantastisch-komplexen Konstruktion unseres Zentralnervensystems". Da draußen gibt es nämlich keine Farben sondern nur elektromagnetische Wellen, die uns keinerlei Anhaltspunkte über den Sinn bzw. Unsinn der menschlichen Existenz geben. Und auch diese elektromagnetischen Wellen gibt es auch nur, weil es Apparate gibt, die auf etwas ansprechen, das man ´elektromagnetische Wellen` nennt.

Die Wirklichkeit ´zweiter Ordnung` wäre demnach die Wirklichkeit der Bedeutung, des Sinns und Wert der Welt, in der es jedoch keine objektive Klarlegung oder Festlegung der Richtigkeit gibt, denn es sind Aspekte, die sich nicht mit wissenschaftlichen Fakten festlegen und beschreiben lassen. "An sich ist kein Ding weder gut noch bös, das Denken macht es erst dazu" zitiert dazu Watzlawick Shakespeare. Die Bedeutung eines roten Lichtes zum Beispiel, hat absolut nichts mit der Wellenlänge des Rotlichts oder dergleichen zu tun; sie ist vielmehr eine menschliche Konvention, eine Zuschreibung von Bedeutung, die innerhalb zwischenmenschlicher Beziehungen über einen komplexen Vorgang wechselseitiger Deutungen bzw. Ver- und Entschlüsselungen erfolgt.

Der soziale Interaktionsprozeß unseres alltäglichen Lebens prägt daher unsere Wahrnehmung und Erkenntnis, er bildet jedoch kein operational geschlossenes System das uns völlig determinieren würde sondern läßt uns die Möglichkeit, in der Reflexion aus diesem Zusammenhang herauszutreten und die Position eines "Beobachters des Beobachters" einzunehmen.

"Aber wir alle haben die merkwürdige Idee, daß die Art und Weise, wie wir die Welt sehen, die Welt in ihrem objektiven so sein widerspiegelt. Und wir legen uns nicht darüber Rechenschaft ab, daß wir es sind, die dieser Welt Bedeutung zuschreiben" schreibt Watzlawick, und er zitiert Heisenberg:

"Die Wirklichkeit, von der wir sprechen können, ist nie die Wirklichkeit an sich, sondern eine gewußte Wirklichkeit oder sogar in vielen Fällen eine von uns gestaltete Wirklichkeit. Wenn gegen diese letztere Formulierung eingewandt wird, daß es schließlich doch eine objektive, von uns und unserem Denken völlig unabhängige Welt gebe, die ohne unser Zutun abläuft oder ablaufen kann und die wir eigentlich mit der Forschung meinen, so muß diesem zunächst so einleuchtendem Vorwand entgegengehalten werden, daß schon das Wort "es gibt" aus der menschlichen Sprache stammt und daher nicht gut etwas bedeuten kann, das gar nicht auf unser Erkenntnisvermögen bezogen wäre. Für uns gibt es nur die Welt, in der das Wort "es gibt" einen Sinn hat."

(Heisenberg in Watzlawick 1995, 56)

Wirklichkeit wird demnach erst durch unser Denken, Erleben und Handeln in einem evolutorischen Prozeß erschaffen und ist ein Ausdruck von Selbstorganisationsvorgängen lebender Systeme. Wirklichkeit hat nichts mit Objektivität zu tun sondern dient als stabilisierende Orientierungs- und Erklärungsgewohnheiten von sozialen Systemen. Wichtig dabei ist, daß jede Wirklichkeitskonstruktion grundsätzlich auch hätte anders ausfallen können. Wirklichkeit ist somit bodenlos.

Hier entsteht nun eine Situation, in der es eine Gewißheit darüber, ob es überhaupt eine Wirklichkeit außerhalb unseres Bewußtseins existiert, nicht gibt, denn "der gesamte Prozeß der Wahrnehmung findet somit nur noch innerhalb des Subjekts statt und jede Beobachtung von äußeren Gegenständen und Vorgängen wird damit zur bloßen Selbstbeobachtung, jede Erkenntnis der Welt zur reinen Selbsterkenntnis ... und die Frage des ´ Passens` unserer Konstruktionen bestünde dann nur darin, ob und inwieweit die von uns konstruierte Erfahrungswelt mit den ebenfalls von uns konstruierten Wahrnehmungsstrukturen einerseits und den von uns aufgestellten Zielen andererseits zusammenpaßt!"

Damit wird aber aus der Theorie des Radikalen Konstruktivismus ein radikaler Subjektivismus und Relativismus, demzufolge "Mitmensch und Umwelt nur Mittel zum Zweck einer absolut gesetzten individuellen Selbstverwirklichung sind". Das mag zwar sehr gut zur aktuellen sozialen Wirklichkeitsauffassung der 90er Jahre passen [8] , aber es werden bei dieser Auslegung des Radikalen Konstruktivismus meiner Meinung nach wichtige Aspekte übersehen.

Denn wenn wir Mitmenschen und Umwelt nicht nur als unsere Konstruktionen sondern als eigenständige Wirklichkeiten erkennen, werden wir sie viel eher auch als solche anerkennen, ihnen Eigenwert und Selbstzweck zugestehen und sie als Bestandteile eines systemischen Gesamtzusammenhangs begreifen. Graf verweist in diesem Sinne auch auf einen systemische Grundgedanken Batesons, wonach "die Beziehungen wesentlicher sind als die Elemente", und auch für Watzlawick sind "Seele und Gesellschaft zwei auf diese Weise in Beziehung stehende und daher nicht trennbare Begriffe und er zitiert dazu Buber:

"In allen Gesellschaftsschichten bestätigen Menschen einander in ihren menschlichen Eigenschaften und Fähigkeiten, und eine Gesellschaft kann in dem Maße menschlich genannt werden, in dem ihre Mitglieder einander bestätigen. Die Grundlage menschlichen Zusammenlebens ist eine zweifache und doch eine einzige: der Wunsch jedes Menschen, von den anderen als das bestätigt zu werden, was er ist, oder sogar als das, was er werden kann, und die angeborene Fähigkeit der Menschen, seine Mitmenschen in dieser Weise zu bestätigen. Daß diese Fähigkeit so weitgehend brachliegt, macht die wahre Schwäche und Fragwürdigkeit der menschlichen Rasse aus. Wirkliche Menschlichkeit besteht nur dort, wo sich diese Fähigkeit entfaltet."

(Buber in Watzlawick 1995, 21)

Zwischenmenschliche Probleme ergeben sich immer aus der Beziehung heraus und sind daher etwas Überpersönliches, aber, "bei dem Gedanken, daß es etwas Drittes, Überpersönliches geben soll, das allein der Beziehung zuschreibbar ist, beginnt die große Schwierigkeit unseres manichäischen Denkens". Sie besteht daran, daß zwei verschiedene Sprachen bzw. Sprachebenen vermengt werden. Wenn ich zum Beispiel sage: Dieser Buchstabe ist schwarz, dann habe ich in der Objektsprache eine Eigenschaft dieses Objekts Buchstabe bezeichnet. Sage ich hingegen, dieser Buchstabe ist größer als jener, dann habe ich eine Aussage über die Beziehung gemacht, die sich nicht mehr auf den einen oder anderen Buchstaben zurückführen läßt. "Die Eigenschaft des Größerseins kann nur in Bezug auf die Beziehung verstanden werden. Das ist so schwer zu begreifen", und weiter: "Zwischen Individium und System, zwischen ´innen` und ´außen` besteht also eine Interdependenz, die wir zunehmend in Betracht ziehen werden müssen, um zu unseren Problemen andere Zugänge zu finden. Wie das Praktisch aussehen soll, darüber kann ich leider keine großen Angaben machen."

Es besteht damit aber auch nicht mehr die Möglichkeit eines grenzenlosen Solipsismus durch eine einseitige Radikalisierung des Descartschen Ansatzes, "indem die ´res extensa`, die reale Außenwelt, völlig von der ´res cogitans`, dem Bewußtsein, verschluckt wird und der vielzitierte ´Paradigmenwechsel`- die Überwindung des cartesanischen Dualismus von Geist und Materie - könnte nun systemisch - als Aufhebung in einem Kreislauf - stattfinden. [9]

 

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6. Praktische und ethische Folgen

 

 

Eine Sicht der Wirklichkeit beruht demnach auf der Erkenntnis, daß alle Phänomene - physikalische, biologische, psychische, gesellschaftliche und kulturelle - grundsätzlich miteinander verbunden sind. Bateson, Capra u.a. sehen darin die Bestandteile eines geistigen Gesamtzusammenhangs, in welchem wir uns nur in "Koevolution" mit allen anderen Lebewesen entfalten können. Statt auf Grundbausteine oder Grundsubstanzen konzentriert sich diese Systemlehre auf grundlegende Organisationsprinzipien. Das Funktionieren eines Organismus wird demnach durch ein zyklisches Muster von Informationen innerhalb verschiedener Rückkopplungsschleifen gelenkt. Bricht ein solches System zusammen, dann ist die Panne meist durch multible Faktoren verursacht, die sich durch voneinander abhängige Rückkopplungsschleifen gegenseitig verstärken. Welcher von diesen Faktoren den Zusammenbruch des Systems schließlich ausgelöst hat, ist oft belanglos.

"Die innere Gestaltbarkeit und Flexibilität lebender Systeme, deren Funktionieren mehr von dynamischen Zusammenhängen als von starren mechanischen Strukturen kontrolliert wird, läßt eine Anzahl charakteristischer Eigenschaften entstehen, die man als verschiedene Aspekte desselben dynamischen Prinzips ansehen kann - des Prinzips der Selbstorganisation"

(Capra, 298).

Da ich aber nach Ansicht des Radikalen Konstruktivismus nicht imstande bin, die ´Wahrheit` bzw. die ´Welt als solche` zu erkennen und auch sonst niemand einen privilegierten Zugang zu einer ´Wirklichkeit da draußen besitzt, bleiben alle Aussagen darüber, wie ´Wirklichkeit` organisiert ist oder sein sollte, persönliche und subjektive Festlegungen.

Das betrifft auch Regelkreismodelle, die von vielen Theoretikern zur Beschreibung psychosozialer Prozesse herangezogen wurden. Regelkreise lassen sich aus unterschiedlichen Perspektiven beschreiben, zum einen als Verhältnis zwischen einem "ist-" und einem "soll-" Wert, zum anderen als Ausarbeitung der Regelung beziehungsweise der Einstellung des "soll-" Wertes.

Im ersten Fall - dem Verhältnis zwischen "ist-" und "soll-" Wert - liegt die Orientierung meist ausschließlich am Defizit: an einem "zuviel" oder "zuwenig" von "etwas". Der Regelungsmechanismus ist darauf ausgelegt, immer dann zu reagieren, wenn vorgegebene Werte über- oder unterschritten werden, also eine Abweichung, ein Mangel oder Überschuß - ein Defizit eben - konstatiert wird.

Und es geht dann ausschließlich darum, "Abweichungen zu minimalisieren und - im besten Fall - zum Verschwinden zu bringen", eine Begründung für die offenkundige Ungleichheit wird nicht gegeben. "In diesem Sinne läßt sich ein so verstandenes Regelsystem als antagonistisches System beschreiben, das sich durch die Zweiteilung ´entweder-oder` definiert: entweder ist der "soll-" Wert erreicht oder er muß erreicht werden. Darin schwingt die Idee des Kampfes, des Gewinnens bzw. des Verlierens, des Durchsetzens gegen Widerstand etc. mit" aber "es geht hier um die Frage der Diagnose: wer ist imstande und berechtigt, diese Werte in welchen Kategorien und mit welchen Mitteln festzulegen?"

Kybernetische Modelle aus dieser Perspektive sind theoretische Konzeptionen, die Stärke, Durchsetzung, Normendefinition etc. in ihren Mittelpunkt stellen und "in denen sich eine bestimmte (z.B. patriarchalische wahlweise matriarchalische) Weltsicht als ´passend` erweist". Unter systemischen Gesichtspunkten kann ein Regler aber nur im Kontext das gesamten Regelmechanismus gesehen werden (denn nur da ist er ein Regler). Wenn jedoch ein Regler nur als Teil eines gesamten kybernetischen Regelungssystems zu sehen ist, kann aber die Frage, wie ein Einzellteil ein System als Ganzes bestimmen soll, nicht beantwortet werden. "Ein ´Regler` wird somit zu einer Beschreibung eines kontinuierlichen Prozesse, "bei dem sich verschiedene Teile wechselseitig beeinflußen, um so als ´ganze Einheit` das hervorzubringen, was als ´Regelungsmechanismus` beschreibbar ist."

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"Wenn kein Teil eines Ganzen dieses Ganze einseitig regeln kann, sondern Regelung als Prozeß wechselseitiger Einflußnahme beschreibbar ist, dann läßt sich auch nicht eindeutig festlegen, welche Aspekte für die Festlegung bestimmter Werte herausragende Bedeutung haben. Regelung wird somit zu einem gemeinsamen Unternehmen".

(Hargens, 16 )

 

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6.a. (Re-) Konstruktivistische Therapie

 

Für Hargens ergeben sich hier nun einige, wie auch ich finde, interessante Überlegungen für den Bereich der ´helfenden Berufe` - "insbesondere da diese sich ausdrücklich mit der Frage der Wirklichkeit, der Normalität befassen und entsprechende (Vor-) Annahmen das helferische Tun beeinflußen und bestimmen". Die Ideen von Menschen darüber, was ein ´helfendes Tun` begründet und wieso ein "professionelles helfendes Tun" angemessen erscheint, stehen für ihn dabei im Vordergrund und die Problematik sieht er darin, daß "unter der Hand Wirklichkeitsbeschreibungen (in das helfende Tun) einfließen, die festlegen, fixieren und Optionen einschränken".

Für ein funktionierendes Sozialgebilde erscheint es unerläßlich, für alle Mitglieder verbindliche Verhaltensvorschriften - die innerhalb eines sozialen Kontextes kollektiv und konsensuell abgestimmt wurden - aufzustellen. Wird nun aber "die Relativität des sozialen Konsens ausgeblendet und verabsolutiert, entsteht die ´soziale Notwendigkeit`, derartige ´Verabsolutierungen` als verbindlich durchzusetzen. Auf diese Weise wird ´soziale Macht` kreirt, die dem (sozial konstruierten) ´Zweck` dient, den sozialen Konsens als absolut und als wahr durchzusetzen. Auf diese Weise bestätigen sich soziale Macht und verabsolutierter sozialer Konsens wechselseitig. Verstöße werden dann in der Regel mit einem mehr oder weniger ausgearbeiteten Repertoire sozialer Sanktionen geahndet".

Es wird damit ein Beschreibungssystem einer (der!) Wirklichkeit entwickelt, das Vertreter des helfenden Tuns einen privilegierten Zugang zu den Wirklichkeitskonstruktionen ihrer Gegenüber verschafft. In den Theorieentwürfen [10] der helfenden Berufe spiegelt sich diese Auffassung ja mehr oder weniger deutlich wider. "Annahmen über Ursachen des abweichenden Verhaltens werden (da) formuliert, (und) in Individuen, Gruppen oder soziale Verhältnisse ´hineingelegt. Da wir als VertreterInen des helfenden Tuns einen privilegierten Zugang zur Wirklichkeit haben, liegt es auch in unserer (Definitions-) Macht, die Wirklichkeit unserer Gegenüber einzuordnen: angepaßt - gestört - abweichend oder: gesund - krank - unheilbar" und es ist völlig gleichgültig wie normal der Betreffende sich auch gibt - im Rahmen einer einmal erzeugten Wirklichkeit ist jedes Verhalten ein weiterer Beweis seiner Gestörtheit.

Die Gedanken des konstruktivistischen Ansatzes regten Hargens u.a. nun dazu an, ihr helfendes Tun unter immer wieder anderen Perspektiven zu betrachten und vor allem den Aspekt der "Gleichberechtigung aller am Interaktionsprozeß Beteiligten in Hinblick auf Konstruktion(en) von Wirklichkeit" in das Zentrum ihrer Arbeit zu stellen. Dabei sind sie sich jedoch im klaren darüber, daß auch ihr Modell nicht wahrer oder richtiger als jedes andere ist sondern einfach nur ´anders`. Und es ist gerade dieses ´andere`, das ihre Neugier, ihr Interesse weckt und sie dazu anregt, Wirklichkeiten zu re-konstruieren ohne "deshalb gleich in einen (sozial oft üblichen) Wettstreit über das ´bessere Modell` zu verfallen". Es kann - nach ihrer konstruktivistischer Ansicht - keinen ´bessere` oder ´schlechteren` Ansatz geben, sondern nur eine Vielzahl verschiedener, ´anderer` Ansätze, die alle gleich berechtigt und gleich gültig sind. Und es ist die Frage nach der anderen Wirklichkeitskonstruktion, die sie neugierig macht und ihnen den Weg zu Ressourcen und Kompetenzen ihres Gegenüber zeigt.

Das bedeutet jedoch nicht, das für Hargens alle (Re-) Konstruktionen seines Gegenüber gleich wünschenswert sind. "Ich habe klare Bevorzugungen und klare Bewertungen, aus denen ich keinen Hehl mache. Für mich bleibt es aber in der Arbeit wichtig, meine Bevorzugungen nicht zum ´Maßstab aller Dinge` zu machen". Im Modell des Radikalen Konstruktivismus bleiben alle Menschen verantwortliche Konstrukteure ihrer jeweiligen Wirklichkeit, "aber ich kann sehr deutlich bewerten und Stellung nehmen, z.B. wenn ich mit einem Sexualstraftäter arbeite - seine sexuelle Straftat lehne ich ab, bewerte ich negativ - aus meinem Rahmen heraus. Da ich seinen Rahmen als für ihn gültig verstehe, bleibe ich Neugierig auf seine (Re-) Konstruktion seines Rahmens. Was macht es für ihn notwendig, seine Welt gerade so zu (re-) konstruieren? Welche Kompetenzen, welche Ressourcen bleiben - neben der Sexualstraftat (für ihn/für mich/für andere) erkennbar?"

In der Begegnung zwischen ´professionellen Helfer` und ihrer Gegenüber treffen spezifische Bewertungen aufeinander, die konstitutiv für die Definition der Probleme, Schwierigkeiten, Dysfunktionen etc. sind. Es geht nun nicht darum, diese "Probleme, Schwierigkeiten, Dysfunktionen gewissermaßen ´wegzudefinieren`, sondern darum, in welcher Art und Weise sich auch hier Kompetenzen und Ressourchen zeigen".

Dabei können durchaus unterschiedliche Perspektiven angelegt werden um eine "epistemologische Debatte" führen zu können und es liegt "in der sozialen Verantwortung der HelferInnen, solche Perspektiven ausdrücklich einzubeziehen".

Das bedeutet unter anderem, daß dabei gesellschaftliche Rahmen wie Macht, Gender, Abhängigkeitet etc. als konstituierende Rahmen benutzt werden können und die Themen innerhalb dieses Rahmens beleuchtet werden. Hargens Interesse richtet sich somit darauf, "solche Rahmen zu konstituieren, daran Geschichten zu (re-) konstruieren und unseren Gegenüber damit einen Metarahmen anzubieten und vorzuschlagen, der - so unser Ziel - ihre Optionen vielleicht erweitern hilft."

 

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6.b. Ebenen der Ethik

 

Die Relativität des systemisch-konstruktivistischen Denkens enthält auf den ersten Blick implizit die Möglichkeit skrupelloser Manipulation und totaler Willkür. Der Ansatz wirkt deshalb auf viele gefährlich, "da er ohne Moral und Prinzipien erscheint" (Marianne Krüll 1987, 250 ff). weist jedoch daraufhin, daß er dennoch auf einer spezifischen Ethik und politischen Haltung seiner Vertreter basiert, die tatsächlich ein Mehr an Verantwortung für ihre zwischenmenschliche Beziehungen mit sich bringt - was wiederum so manchen Gegner dieses Ansatzes in seiner Ablehnung eben dieser Ansicht bestärkt.

Wie dem auch sei, die "vermeintliche Amoralität des systemischen Denkens" ergibt sich, Krülls Meinung nach, "aus einem Mißverständnis einer der Grundprämissen dieses Ansatzes, nämlich der der Rekursivität". Durch die Anwendung der Rückbezüglichkeit werden dann ja auch jedem Vertreter dieses Ansatzes die eigenen ethischen Prinzipien deutlich, denn diese legt ihm ja nahe, sein eigenes Denken zu reflektieren und somit seine kontextuelle Eingebundenheit in ein spezifisches Wertesystem selbst zu erkennen.

Das führt ihn dann auch dazu, "nicht mehr vom ´Universium` einer Ethik, sondern von den ´Multiversa` vieler Ethiken" auszugehen. Das wiederum führt dann zur Anerkennung der Vielfalt der ethisch-moralischen Vorstellungen in den Religionen und Kulturen der Völker, aber auch zur Einsicht, daß "innerhalb der eigenen Gesellschaft von Einzelnen oder Gruppen gleichzeitig unterschiedliche, oft sogar konträre ethische Prinzipien vertreten werden".

Krüll spricht nun - wenn jemand nach bestimmten ethischen Prinzipien handelt - von dessen ethischer Objekt- oder Null-Ebene. Auf dieser Ebene befinden sich seine sämtlichen gültigen Kriterien für sein alltägliche Handeln, sie sind zwar kulturspezifisch, variieren aber auch innerhalb einer Kultur oft sehr stark, werden jedoch beim aktuellen Handeln nicht reflektiert, sondern wie selbstverständlich angewendet. Unser Handeln erfolgt "sozusagen immer aus einer bestimmten, uns selbst meist unbewußten Ethik heraus, von der wir zwar wissen, daß sie nicht die einzige ist, die uns aber im Moment des Handelns als die einzig richtige erscheint".

Die Ethik der Ebene 0 kann man nun aus einer anderen Ebene - einer Ebene 1 - heraus betrachten und dabei feststellen, "daß alle Ethiken Kriteriensysteme zur Bewertung und Legitimation von Verhalten sind". Unter ´Verhalten` werden dabei sämtliche Interaktionen verstanden, die ´Bewertung` erfolgt immer in einer gut-schlecht Dimension und die ´Legitimation` ist eine, "meist aus irgendeiner Transzendenz hergeleitete Erklärung und Begründung für die Notwendigkeit der jeweiligen Bewertung". Aus dieser Ebene 1 heraus können nun auch verschiedene Ethiken miteinander verglichen werden, aber auch die eigene Ethik kann nun einer Reflexion zugänglich gemacht werden (sofern man will) und man kann dann feststellen, daß man selbst - je nach Situation - eine jeweilig speziell angepaßte Ethik besitzt, "d.h. ein Kriteriensystem, das für mein aktuelles Handeln maßgeblich ist".

Von einer Ebene 2 aus läßt sich nun - in rekursiver Perspektive die Ebene 1 betrachtend - sagen: "Es gibt keine absolute Ethik". Es gibt keine absoluten Maßstäbe, "die es ermöglichen eine Ethik für besser als die andere zu halten. Wenn eine bestimmte Ethik, die einzelne oder eine soziale Gruppe vertreten, verabsolutiert wird, dann steht dahinter die Absicht, Macht festzuschreiben, es sollen gesellschaftliche Verhältnisse stabilisiert werden, es soll ein Feindbild aufgebaut werden, persönliche Interessen sollen durchgesetzt werden, man will sich gegen etwas abschotten, sein Ich stabilisieren usw".

Dem Einwand, daß nun alles erlaubt sei, das schlimmste Verbrechen aus einem bestimmten Kontext heraus legitimiert werden könnte, widerspricht Krüll indem sie behauptet, "daß die Kritik des Objektivitätsanspruchs, die mir auf der Ebene 2 möglich wird, ihrerseits auf inhaltlichen Prämissen basiert, die selbst eine Ethik implizieren" und sie unterscheidet nun noch eine weitere Ebene 3, von der heraus es möglich ist zu sagen: "Der Satz ´Es gibt keine absolute Ethik` ist selbst nicht absolut zu setzen. Er basiert auf einer konkreten Ebene 0".

Denn die Meinung, ´Ethiken, die als absolut hingestellt werden sind schlecht oder falsch`, ist ja selbst eine Bewertung, hinter der eine bestimmte politische und persönliche Haltung steht, die auf einer Ethik der Toleranz auf der Ebene 0 basiert. Sobald jemand also bei der Betrachtung der ethischen Bewertungen und Begründungen seines Verhaltens sich selbst rekursiv mit einbezieht, ergibt sich ein Zirkel, aus dem er nicht entrinnen kann, "weil - wie auch in anderen Bereichen sprachlicher Rekursivität - die Reflexion über die Prämissen meines Reflektierens von eben diesen Prämissen ausgehen muß".

Und durch die Einbeziehung der Zeitdimension erhält dieser rekursive Prozeß eine, nun dem alltäglichen Leben entsprechende Dynamik. Die Bewertung und Begründung eines Verhaltens zu einem Zeitpunkt t ist nämlich nicht identisch mit der zum Zeitpunkt t`. Da in jedem Zeitintervall Erfahrungen gemacht werden, die die Wertungen der Ebene 0 in irgendeiner Weise beeinflußen, werden diese Wertungen entweder gefestigt oder abgeschwächt, "in jedem Fall sind sie, wenn auch nur minimal, verändert worden. Ich komme nie mehr zur Ebene 0 zurück, sondern zu einer Ebene 0`. Es ist in diesem Sinne kein ´Zirkel der Erkenntnis` sondern eher eine ´Spirale der Rekursivität` in der sich sämtliche Ebenen ständig verändern, "sich innerhalb der Zeitdimension um die eigene Achse winden".

Dadurch ist es möglich, verbindlich zu den eigenen Wertungen zu stehen und dennoch ihre Relativität in der Rekursivität zu akzeptieren und damit also auch ihre Veränderbarkeit zuzulassen. Diese Relativierung der eigenen Überzeugung erscheint jedoch vielen Menschen als Schwächung der eigenen politischen Durchsetzungskraft, sie befürchten, in ihren politischen Forderungen nicht mehr ernstgenommen zu werden. Für Krüll und auch nach meiner Meinung ist der Preis dafür, daß man unserer Gesellschaft nur gehört wird, "wenn man mit Bravour die eigenen Ansichten als endgültig, unwiderlegbare Wahrheit vertritt", zu hoch. Es ist unglaubwürdig, gegen die Verabsolutierung ethischer Prinzipien anzugehen und gleichzeitig die eigenen ethischen Prinzipien zu verabsolutieren.

Und wer glaubt, sich das nicht erlauben zu können, "also nicht bereit ist, die Spirale bei jeder Drehung bis zur Ebene 3 zu durchlaufen, und schon aus der Ebene 2 oder gar 1 herausspringt, der muß sich über die Konsequenzen dieser Entscheidung klar sein. Denn ein Ausstieg auf der Ebene 2 impliziert, daß man zwar den Machtanspruch des politischen Gegners durchschaut hat, aber nicht den eigenen Machtanspruch erkennt, der immer gegeben ist, wenn man die eigenen Ansichten als letzte Wahrheit präsentiert". Und der Austieg aus der Spirale auf der Ebene 1 repräsentiert die Ansicht, daß derjenige noch nicht einmal bereit ist, anzuerkennen, daß ethische Prinzipien niemals absolut wahr sein können. Er erklärt damit die eigenen Prinzipien für absolut wahr und die des politischen Gegners für absolut falsch. Wenn dann noch "der politische Gegner ebenfalls auf der Ebene 1 stehenbleibt, muß daraus unweigerlich ein Konflikt resultieren, in dem jede Partei bestrebt ist, die andere zu vernichten".

Der systemische Denkansatz setzt somit eine ethische Haltung voraus, die den Mut zur permanenten Reflexion der eigenen Prämissen beinhaltet und ist in diesem Sinne selbst eine ethische und politische Haltung. Damit kommt der, der sich das systemische Denken in aller Konsequenz zu eigen macht, nicht umhin, auch die zugrunde liegende Ethik zu akzeptieren. "Aber nur wer eine solche Ethik der Toleranz schon für sich akzeptiert hat, wird bereit sein, sich das systemische Denken zu eigen zu machen".

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